In "Blätter für deutsche und internationale Politik" (November 2016), a new interview with Jürgen Habermas:
Für eine demokratische Polarisierung
(An English translation is available here)
Excerpts
"Die neue Unordnung der Welt, die Hilflosigkeit der USA und Europas angesichts der zunehmenden internationalen Konflikte ist beunruhigend, und die humanitären Katastrophen in Syrien oder im Südsudan zerren ebenso an unseren Nerven wie die islamistischen Terrorakte. Dennoch kann ich in der Konstellation [.....] keine einheitliche Tendenz zu einem neuen Autoritarismus erkennen, sondern eher verschiedene strukturelle Ursachen und viele Zufälle. Das Verbindende ist die Klaviatur des Nationalismus, den aber haben wir mittlerweile auch im eigenen Haus. Russland und die Türkei waren auch schon vor Putin und Erdogan keine „lupenreinen Demokratien“. Mit einer etwas klügeren Politik des Westens hätten die Weichen im Verhältnis zu beiden Ländern vielleicht anders gestellt, hätten vielleicht auch liberale Kräfte in diesen Bevölkerungen gestärkt werden können." (.....)
"Die wirtschaftliche Globalisierung, die Washington in den 1970er Jahren mit seiner neoliberalen Agenda eingeleitet hat, hatte im globalen Maßstab gegenüber China und den anderen aufgestiegenen BRICS-Staaten einen relativen Abstieg des Westens zur Folge. Unsere Gesellschaften müssen die Wahrnehmung dieses globalen Abstiegs, zusammen mit der technologisch bedingten, explosiv zunehmenden Komplexität der erlebten Alltagswelten, innenpolitisch verarbeiten. Die nationalistischen Reaktionen verstärken sich zumal in den Milieus, die jeweils von den durchschnittlichen Wohlstandsgewinnen der Volkswirtschaften im ganzen entweder gar nicht oder nicht angemessen profitieren, weil die immer wieder beschworenen trickle-down-Effekte seit Jahrzehnten ausbleiben." (.....)
"Als vernünftige Alternative [.....] bietet sich aus meiner Sicht nur eine supranationale Zusammenarbeit an, die das Ziel einer sozialverträglichen politischen Gestaltung der wirtschaftlichen Globalisierung verfolgt. Dafür reichen internationale Vertragsregime nicht aus; denn ganz abgesehen von deren zweifelhafter demokratischer Legitimation können politische Entscheidungen über verteilungsrelevante Fragen nur in einem festen institutionellen Rahmen implementiert werden. Daher bleibt nur der steinige Weg einer institutionellen Vertiefung und Verankerung einer demokratisch legitimierten Zusammenarbeit über nationale Grenzen hinweg. Die Europäische Union war einmal ein solches Projekt – und die Politische Euro-Union könnte es immer noch sein. Aber dafür sind die Hürden der innenpolitischen Willensbildung eben sehr hoch.
Die Sozialdemokratien sind seit Clinton, Blair und Schröder auf eine im ökonomischen Sinne systemkonforme Linie eingeschwenkt, weil das im politischen Sinne „systemkonform“ war oder zu sein schien: Im „Kampf um die Mitte“ glaubten diese politischen Parteien, Mehrheiten nur auf dem Weg der Anpassung an den neoliberalen Kurs gewinnen zu können. Dafür haben sie die Tolerierung der langfristig wachsenden sozialen Ungleichgewichte in Kauf genommen. Inzwischen ist offenbar dieser Preis – das wirtschaftliche und soziokulturelle „Abhängen“ immer größerer Bevölkerungsteile – so weit gestiegen, dass sich die Reaktion darauf nach rechts entlädt. Wohin auch sonst? Wenn eine glaubwürdige und offensiv vertretene Perspektive fehlt, bleibt dem Protest nur noch der Rückzug ins Expressive und Irrationale." (.....)
"Nach meiner Einschätzung hat der innenpolitische Umgang mit dem Rechtspopulismus von Anfang an die falsche Richtung eingeschlagen. Der Fehler der etablierten Parteien besteht darin, die Front anzuerkennen, die der Rechtspopulismus definiert: „Wir“ gegen das System. Dabei ist es ziemlich wurscht, ob dieser Fehler in Gestalt einer Assimilation an oder einer Konfrontation mit „rechts“ auftritt." (.....)
"Man müsste also politische Gegensätze wieder kenntlich machen, auch den Gegensatz zwischen der – im politischen und kulturellen Sinne „liberalen“ – Weltoffenheit der linken und dem ethnonationalen Mief der rechten Globalisierungskritik. Kurzum: Die politische Polarisierung müsste sich wieder zwischen den etablierten Parteien um sachliche Gegensätze kristallisieren. Parteien, die dem Rechtspopulismus Aufmerksamkeit statt Verachtung widmen, dürfen von der Zivilgesellschaft nicht erwarten, dass sie rechte Parolen und rechte Gewalt ächtet."
(Thanks to Hauke Behrendt for the pointer!)
Friday, October 28, 2016
Saturday, October 22, 2016
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Thursday, October 20, 2016
Axel Honneth on Bob Dylan
In "Die Zeit" (October 20, 2016) Axel Honneth pays tribute to Bob Dylan, who was awarded the 2016 Nobel Prize for literature:
Unser Walt Whitman
Bob Dylan ist der Dichter unserer Einsamkeit und unserer Gemeinsamkeit
[Not yet available online]
Excerpts:
"Was an diesem singenden Poeten so groß ist, das es voll ends gerechtfertigt erscheinen lässt, ihm den Preis zuzusprechen, ist vielleicht gar nicht leicht denen zu erklären, die sich nicht bereits in seinem Bann befinden. Es begann vor etwa fünfzig Jahren, als einer der vielen Songs aus seinem Mund – ob es nun Like a Rolling Stone war, Mr. Tambourine Man oder It Ain’t Me Babe, spielt beinah keine Rolle – plötzlich mir, nein, uns aufschloss, wie wir uns zukünftig zu dieser Welt stellen und uns in ihr verhalten sollten: mit Distanz, aber ohne Verrat unserer Bindungen, mit Sympathie für die Schlechtergestellten, aber ohne die auftrumpfende Gebärde des Besserwissens, mit dem Bewusstsein des Alleinseins, aber ohne die bedrückende Empfindung, damit allein zu sein. Spielerisch hat Dylan, ohne es wissen zu können, die Kluft zwischen dem Existenzialismus der fünfziger Jahre und dem Geist der Revolte der siebziger Jahre geschlossen, hat den Gestus des trotzigen Individualismus in den Strom der solidarischen Bewegungen hinüberretten können." (.....)
"So gelingt, was ansonsten nur große Poesie vermag, allerdings im Medium des Allerverständlichsten, dem unerschöpflichen Strom der Musik des nordamerikanischen Kontinents: das Festhalten der Erfahrung, in der disparaten Vielzahl unserer je individuellsten Empfindungen doch einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten anzugehören." (.....)
"Wie gut, dass das schwedische Preiskomitee den Mut besaß, die Grenzen des Literarischen neu zu ziehen. Als der durch die Welt reisende Bänkelsänger am Donnerstag abend auf einer Bühne in Las Vegasseine never ending tour fortsetzte, so wird berichtet, ließ er die tektonische Erschütterung, die seine Auszeichnung für unsere Kultur bedeutet, mit keinem Wimpernschlag erkennen – ein stoischer Walt Whitman unserer Tage, der uns mit knarrender Stimme davon singt, wie wir uns ohne Verrat unseres vielstimmigen Ichs als Glieder einer umfassenderen Bewegung begreifen können, die sich den Verfehlungen dieser Welt widersetzt."
See also the comments by Salman Rushdie, Seamus Perry, Joyce Carol Oates, and Will Self.
See Cass R. Sunstein's "How Bob Dylan Surpassed Whitman as the American Poet".
In 2007 Axel Honneth (together with Peter Kemper and Richard Klein) edited a book on Bob Dylan (Suhrkamp Verlag) with essays by Michael Gray, Axel Honneth, Susan Neiman et.al.
Unser Walt Whitman
Bob Dylan ist der Dichter unserer Einsamkeit und unserer Gemeinsamkeit
[Not yet available online]
Excerpts:
"Was an diesem singenden Poeten so groß ist, das es voll ends gerechtfertigt erscheinen lässt, ihm den Preis zuzusprechen, ist vielleicht gar nicht leicht denen zu erklären, die sich nicht bereits in seinem Bann befinden. Es begann vor etwa fünfzig Jahren, als einer der vielen Songs aus seinem Mund – ob es nun Like a Rolling Stone war, Mr. Tambourine Man oder It Ain’t Me Babe, spielt beinah keine Rolle – plötzlich mir, nein, uns aufschloss, wie wir uns zukünftig zu dieser Welt stellen und uns in ihr verhalten sollten: mit Distanz, aber ohne Verrat unserer Bindungen, mit Sympathie für die Schlechtergestellten, aber ohne die auftrumpfende Gebärde des Besserwissens, mit dem Bewusstsein des Alleinseins, aber ohne die bedrückende Empfindung, damit allein zu sein. Spielerisch hat Dylan, ohne es wissen zu können, die Kluft zwischen dem Existenzialismus der fünfziger Jahre und dem Geist der Revolte der siebziger Jahre geschlossen, hat den Gestus des trotzigen Individualismus in den Strom der solidarischen Bewegungen hinüberretten können." (.....)
"So gelingt, was ansonsten nur große Poesie vermag, allerdings im Medium des Allerverständlichsten, dem unerschöpflichen Strom der Musik des nordamerikanischen Kontinents: das Festhalten der Erfahrung, in der disparaten Vielzahl unserer je individuellsten Empfindungen doch einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten anzugehören." (.....)
"Wie gut, dass das schwedische Preiskomitee den Mut besaß, die Grenzen des Literarischen neu zu ziehen. Als der durch die Welt reisende Bänkelsänger am Donnerstag abend auf einer Bühne in Las Vegasseine never ending tour fortsetzte, so wird berichtet, ließ er die tektonische Erschütterung, die seine Auszeichnung für unsere Kultur bedeutet, mit keinem Wimpernschlag erkennen – ein stoischer Walt Whitman unserer Tage, der uns mit knarrender Stimme davon singt, wie wir uns ohne Verrat unseres vielstimmigen Ichs als Glieder einer umfassenderen Bewegung begreifen können, die sich den Verfehlungen dieser Welt widersetzt."
See also the comments by Salman Rushdie, Seamus Perry, Joyce Carol Oates, and Will Self.
See Cass R. Sunstein's "How Bob Dylan Surpassed Whitman as the American Poet".
In 2007 Axel Honneth (together with Peter Kemper and Richard Klein) edited a book on Bob Dylan (Suhrkamp Verlag) with essays by Michael Gray, Axel Honneth, Susan Neiman et.al.