Sunday, October 11, 2015

Interview with Habermas - "Critique and communication"

The August/September issue of the French journal "Esprit" features articles on Jürgen Habermas - "Habermas, le dernier philosophe" - including a new interview with Jürgen Habermas:

"Critique et communication : les tâches de la philosophie"


The German orginal is available at "Eurozine":

"Kritik und kommunikatives Handeln" (PDF)


An English translation is now available:

"Critique and communication: Philosophy' missions"


Excerpt

Die Philosophie, die übrigens in ihren platonischen Ursprüngen selbst einmal, ähnlich wie der Konfuzianismus, so etwas wie ein religiöses Weltbild gewesen ist, hat wie gesagt von den religiösen Weltbildern die wichtige, sogar lebenswichtige Funktion übernommen, in aufklärender Absicht und auf rationale Weise zur Selbstverständigung des Menschen über sich und die Welt beizutragen. Ich möchte diesen Satz in zwei Hinsichten erläutern. 

Unter Prämissen nachmetaphysischen Denkens hat die Philosophie heute, anders als Mythen und Religionen, keine Weltbild erzeugende Kraft mehr. Sie navigiert zwischen Religion und Naturwissenschaften, Sozial- und Geisteswissenschaften, Kultur und Kunst, um zu lernen – und im bestehenden Selbstverständnis Illusionen zu tilgen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Philosophie ist heute ein parasitäres, von fremden Lernprozessen zehrendes Unternehmen. Aber gerade in dieser sekundären Rolle eines reflexiven Bezugnehmens auf andere, vorgefundene Gestalten des objektiven Geistes ist es die Philosophie, die das Ganze des Gewussten und Halbgewussten kritisch in den Blick nehmen kann. "Kritisch" heißt "in aufklärender Absicht". Dieses eigentümliche Aufklärungsvermögen hat übrigens die christliche Philosophie des Mittelalters im Verlaufe einer Jahrhunderte langen Diskussion über "Glauben und Wissen" erworben. Die Philosophie kann uns über ein falsches Selbstverständnis "aufklären", indem sie uns das, was ein Zuwachs an Wissen über die Welt für uns bedeutet, zu Bewusstsein bringt. Insofern hängt das nachmetaphysische Denken von wissenschaftlichen Fortschritten und von neuen, kulturell erschlossenen Perspektiven auf die Welt ab, ohne – als eine im wissenschaftlichen Geist betriebene Tätigkeit – selber zu einer wissenschaftlichen Disziplin unter anderen zu werden. Sie hat sich als Fach etabliert, aber sie gehört zur wissenschaftlichen Expertenkultur, ohne den vergegenständlichenden und methodisch auf einen bestimmten Gegenstandsbereich eingeschränkten Blick einer Fachwissenschaft anzunehmen. Anders als die Religion, die in Erfahrungen einer kultischen Gemeindepraxis verwurzelt ist, darf sie die Aufgabe, unser Welt- und Selbstverständnis rational zu klären, allein mithilfe von Argumenten erfüllen, die ihrer Form nach den falliblen Anspruch auf allgemeine Anerkennung erheben dürfen.

Sodann halte ich die Funktion der Selbstverständigung auch für lebenswichtig, denn diese war stets mit einer sozialintegrativen Funktion vorkoppelt. Das war solange der Fall, wie die religiösen Weltbilder und metaphysischen Lehren die kollektiven Identitäten von Glaubensgemeinschaften stabilisiert haben. Aber auch nach dem Ende des "Zeitalters der Weltbilder" behält in modernen Gesellschaften die pluralisierte und individualisierte Selbstverständigung der Bürger ein integratives Moment. Mit der Säkularisierung der Staatsgewalt wird die Religion von der Aufgabe, die politische Herrschaft zu legitimieren, entlastet. Damit verschiebt sich die Bürde der Integration der Bürger von der Ebene der sozialen auf die Ebene der politischen Integration, und das heißt: von der Religion auf die Grundnormen des Verfassungsstaates, die in eine gemeinsame politische Kultur eingebettet sind. Diese Verfassungsnormen, die den Rest eines kollektiven Hintergrundeinverständnisses sichern, ziehen ihre Überzeugungskraft aus den immer wieder erneuerten philosophischen Argumentationen des Vernunftrechts und der politischen Theorie.

Heute klingt allerdings der schriller werdende Appell der Politiker an "unsere Werte" immer hohler – schon die Verwechslung von "Prinzipien", die begründungs-bedürftig sind, mit "Werten", die mehr oder weniger attraktiv sind, ärgert mich maßlos. Wir können fast in Zeitlupe verfolgen, wie unsere politischen Einrichtungen im Zuge der technokratischen Anpassung an globalisierte Marktimperative immer weiter ihrer demokratischen Substanz beraubt werden. Unsere kapitalistischen Demokratien schrumpfen zu Fassadendemokratien. Diese Entwicklungen verlangen nach einer wissenschaftlich informierten Aufklärung. Aber keine der einschlägigen Fachwissenschaften – weder die Ökonomie, noch die Politikwissenschaft oder die Soziologie – kann, je für sich genommen, diese Aufklärung leisten. Die vielfältigen Beiträge dieser Disziplinen müssen vielmehr unter dem Gesichtspunkt einer kritischen Selbstverständigung verarbeitet werden. Seit Hegel und Marx ist genau das die Aufgabe einer kritischen Gesellschaftstheorie, die ich nach wie vor als Kern des philosophischen Diskurses der Moderne betrachte.

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