Thursday, September 06, 2012

Habermas in Hessen: More Europe, More Democracy

Yesterday Jürgen Habermas received the Georg-August-Zinn Prize awarded by the Social Democratic Party (SPD) in Hessen. 

Habermas's acceptance speech is published in "Die Zeit" (September 6, 2012):

"Politik und Erpressung"
[now available online]

Excerpt:
"Ich fürchte freilich, dass wir genau diesen Preis für eine technokratische Lösung der Krise entrichten sollen. Die Regierungen werden die nötigen Befugnisse auf europäischer Ebene konzentrieren, um »die Märkte« zu befriedigen; aber gleichzeitig wollen sie versuchen, die wahre Bedeutung dieses Integrationsschrittes vor dem heimischen Wählerpublikum herunterzuspielen, weil sie für die Vertiefung der Politischen Union nicht einmal mehr in den Ländern Kerneuropas mit der bisher üblichen passiven Folgebereitschaft rechnen dürfen. Nach diesem Szenario befinden wir uns auf dem postdemokratischen Wege zu einem marktkonformen, das heißt auf Finanzmarktimperative zugeschnittenen Exekutivföderalismus. Dabei würde nicht nur die Demokratie auf der Strecke bleiben; wir würden gleichzeitig die Chance verspielen, die Finanzmärkte, wenn auch zunächst nur innerhalb eines Wirtschaftsraums kontinentalen Ausmaßes, zu regulieren. Eine europäische Exekutive, die sich gegenüber einer demokratisch mobilisierbaren Wählerschaft voll ends verselbstständigt, verliert jedes Motiv und auch die Kraft zum Gegensteuern.
Gewiss gibt es für das Zögern von Regierungen und Parteien gute Gründe. Bisher ist das europäische Projekt über die Köpfe der Bevölkerungen hinweg mehr oder weniger von den politischen Eliten allein vorangetrieben worden. Und die Bürger waren’s zufrieden, solange die EU eine Gewinngemeinschaft war. Nun aber hat die Euro-Krise, die sich auf die nationalen Wirtschaften verschieden auswirkt und aus der Sicht nationaler Öffentlichkeiten polarisierend wahrgenommen wird, überall den euroskeptischen Rechtspopulismus verstärkt. Die Umfragen belegen, dass heute Mehrheiten für eine fällige Vertragsänderung nicht leicht zu gewinnen sind. Doch bevor wir diese Stimmungslagen resignativ als Gegebenheiten hinnehmen, sollten wir uns zunächst an die normative Betrachtungsweise erinnern, wonach politische Wahlen und Abstimmungen etwas anderes bedeuten als demoskopische Umfragen. Wahlen und Abstimmungen sollen nicht nur ein Spektrum bestehender Vorlieben abbilden, sondern Urteile über die Programme und die Personen, die zur Wahl stehen. Sie dürfen den Willen des Volkes nicht unreflektiert ausdrücken, denn sie haben auch einen kognitiven Sinn. Die Regierung muss auf der Grundlage solcher Richtungsentscheidungen drängende Probleme bearbeiten. In einer Demokratie genügen politische Wahlen nicht ihrer systemischen Bestimmung, wenn sie bloß die Verteilung von Präferenzen und Vorurteilen registrieren. Wählervoten erlangen das institutionelle Gewicht von staatsbürgerlichen Entscheidungen eines Mitgesetzgebers erst dadurch, dass sie aus einem öffentlichen Prozess der Meinungs- und Willensbildung hervorgehen, wobei dieser Prozess vom öffentlichen Für und Wider frei flottierender Meinungen, Argumente und Stellungnahmen gesteuert wird. Die Meinungen der Bürger sollen sich aus der dissonanten Springflut von Beiträgen im Lichte eines öffentlich artikulierten Meinungsaustausches erst herausbilden."


See the announcement on SPD's website here.

See my previous post on the Georg-August-Zinn Prize here.

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