Wednesday, March 04, 2020

Habermas congratulates Ernst Tugendhat on his 90th birthday

In "Die Zeit" (March 5, 2020), Jürgen Habermas congratulates Ernst Tugendhat on his 90th birthday:

"Eine philosophische Existenz. Autonomie und Gerechtigkeit – zum 90. Geburtstag von Ernst Tugendhat"

Excerpts:

"Im Jahr 1976 erschien in einer Taschenbuchausgabe mit dem untertreibenden Titel  "Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie" das Buch eines jüngeren Professors, der in Freiburg bei Heidegger studiert hatte und auf Initiative von Hans-Georg Gadamer 1966 nach Heidelberg berufen worden war. Er hatte mit einer Habilitationsschrift über den Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger die Aufmerksamkeit der Fachgenossen auf sich gezogen und schien sich, aus der Entfernung betrachtet, in die auch nach 1945 ungebrochen vorherrschende Tradition von Phänomenologie und Hermeneutik einzufügen. Tatsächlich hatte ihn aber ein Semester in Ann Arbor (Michigan, USA) von den methodischen Vorzügen der nach 1933 in die Emigration getriebenen und in den angelsächsischen Ländern aufgeblühten analytischen Philosophie überzeugt. (....)

Er interessiert sich nur für systematische Fragen und geht diese umstandslos frontal an. Er ist unter den deutschen Kollegen seiner Generation derjenige, der die Lehren von Frege bis Wittgenstein nicht diskutiert, sondern als Erster praktiziert hat. Ihn hatte wohl das Pathos der "Sachlichkeit" und der detaillierten "Durchführung", das ihm schon bei Husserl begegnet war, für das streng analytische Vorgehen eingenommen. (....)

Im Fach hat die "Einführung in die sprachanalytische Philosophie" mit dem Anspruch des Themas und der Wucht der Argumente sofort großen Eindruck gemacht. Diese Veröffentlichung war für die philosophische Diskussion in Deutschland ein Einschnitt, denn sie setzte für das Niveau der Argumentation neue Maßstäbe. In den folgenden Jahrzehnten hatten unsere intelligentesten Studenten den Ehrgeiz, "so zu schreiben wie Tugendhat" – er hat eine ganze Generation geprägt. Dasselbe Interesse weckte das nächste Buch über "Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung"; es stieß sogleich eine große Kontroverse mit Dieter Henrich über den Begriff des Selbstbewusstseins und die philosophische Rede vom "Ich" an. Die Ablösung vom Paradigma der Bewusstseinsphilosophie, für die Richard Rorty den Ausdruck "linguistische Wende" eingeführt hatte, war in aller Munde. Auch Tugendhat macht sich in der Frontstellung gegen Descartes und den deutschen Idealismus jenes berühmte Argument Wittgensteins zu eigen, dass niemand für sich allein einer Regel folgen und eine Sprache sprechen kann. Mit dessen Hilfe kritisiert er die Vorstellung vom Eigenleben eines zum "Ich" verselbstständigten Bewusstseinssubjekts.

Während er nicht ganz unpolemisch und gewohnt scharfsinnig das reflexive Verhältnis des Sprechers zu seinen Erlebnissen mit der Semantik des "ich-Sagens" erklärt, schöpft er freilich den intersubjektiven Gehalt jenes "Privatsprachen-arguments" keineswegs ganz aus – die Pragmatik des "du-Sagens" und die Einstellung eines Sprechers gegenüber zweiten Personen spielen keine Rolle. Seine Analyse beschäftigt sich nur mit Sätzen, die aus den Perspektiven der ersten und der dritten Person verwendet werden. Zwar nimmt das in Erlebnissätzen artikulierte Selbstverhältnis zu den jeweils eigenen Vorstellungen, Gefühlen und Absichten sprachliche Gestalt an, aber mit dem privilegierten Zugang des Sprechers zu den eigenen Erlebnissen begründet Tugendhat auch einen Vorrang des egozentrischen Verhaltens zu sich vor dem voreilig vergegenständlichten interpersonalen Verhalten zu Anderen.

Aus dieser Beobachtung zieht er eine Konsequenz für den Ansatz der praktischen Philosophie, die ihn die kommenden Jahrzehnte beschäftigen wird. Denn die Egozentrik der "ich sagenden" Person erklärt, warum die Ethik von den Gefühlen und Wünschen der einzelnen Person ausgehen müsse – und von der entsprechenden Frage, was jeweils "für mich" gut und wichtig ist. Eine besondere Rolle soll dabei etwa das Bedürfnis nach der sozialen Anerkennung der eigenen, selbst für wichtig und richtig gehaltenen Leistungen spielen. 

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