A discussion between Jürgen Habermas and Klaus Günther on fundamental rights during the Corona crisis: Protection of life or freedom?
"Kein Grundrecht gilt grenzenlos"
Excerpt:
Klaus Günther:
"Die Notwendigkeit, Grundrechte abzuwägen, ergibt sich aus dem Umstand, dass es mehr als ein Grundrecht gibt und kein Grundrecht grenzenlos gilt. Sie können miteinander kollidieren. Daher dürfen auch die meisten Grundrechte (wie Leben und Freiheit) ausdrücklich durch Gesetze eingeschränkt werden, nicht nur, um vorhersehbare Kollisionen zu verhindern, sondern auch, um andere verfassungsrechtlich legitimierte Ziele zu erreichen.
Der eigentlichen Abwägung zwischen zwei oder mehreren Rechten wie Leben und Gesundheit gegen Freiheit vorgeschaltet ist aber die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs. Neben der verfassungsrechtlichen Legitimität des damit verfolgten Zwecks – hier Lebens- und Gesundheitsschutz – müssen seine Gebotenheit für die Erreichung dieses Zwecks und seine Erforderlichkeit angesichts von Alternativen überprüft werden, die weniger intensiv in das Grundrecht – zum Beispiel die Versammlungsfreiheit – eingreifen, ohne das Ziel des Infektionsschutzes zu gefährden.
Bei diesen drei Schritten hat der Staat – der Gesetzgeber, die Gesundheitsverwaltung – eine Einschätzungsprärogative. Der Kerngedanke des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist, dass der Staat nicht willkürlich und nicht mehr als unbedingt nötig Grundrechte einschränken darf, um ihren jeweiligen Wesensgehalt zu wahren. Erst auf der vierten und letzten Stufe geht es dann um die ausschließlich rechtliche Abwägung, die freilich vorstrukturiert sein kann durch einen Vorrang des Rechts auf Leben oder den Würdeschutz.
Die aktuelle Krise macht eine solche Verhältnismäßigkeitsprüfung zumindest auf der Ebene der allgemein geltenden Rechtsverordnungen jedoch aus mindestens zwei Gründen schwierig: Ohnehin geht es ja nicht um Lebensschutz im umfassenden Sinne, sondern um das sogenannte Flachhalten der Kurve und die Senkung der Reproduktionsrate unter eins. Damit soll sichergestellt werden, dass das Gesundheitssystem mit seinen vorhandenen Mitteln adäquat reagieren kann und nicht mit tragischen Entscheidungssituationen konfrontiert wird, was gewiss ein verfassungsrechtlich legitimes Ziel ist.
Die Antwort auf die Frage, ob die aktuellen Freiheitsbeschränkungen aber auch geeignet und erforderlich sind, dieses Ziel zu erreichen, ist angesichts der Vielzahl zu berücksichtigender Faktoren von erheblichen Prognoseunsicherheiten belastet und kann sich nicht oder nur zum Teil auf Erfahrungs- und Vergleichswissen stützen.
Damit bin ich beim zweiten Grund für die Schwierigkeiten mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip: Das Recht auf Leben in Artikel 2 Absatz 2 GG war ursprünglich vor allem ein Abwehrrecht gegen einen Staat, der häufig mit Zwang und Gewalt willkürlich in das Leben seiner Untertanen eingegriffen hat. Infolge von Krankheiten sterben zu müssen gehörte in früheren Zeiten dagegen zum allgemeinen Lebensrisiko, das sich nur selten vermeiden oder reduzieren ließ. Erst seitdem wir über ein hochkomplexes und aufwendiges medizinisches Versorgungssystem verfügen, stellt sich überhaupt die Frage, was und wie viel Staat und Gesellschaft tun können und müssen, um vorhersehbar lebensgefährliche Krankheitsverläufe zu verhindern oder abzumildern.
Innerhalb des Rechts auf Leben tritt damit eine zweite Bedeutungskomponente hervor – die Verpflichtung des Staates, Leben und Gesundheit zu schützen, und zwar nicht nur, wie schon immer, vor rechtswidrigen Angriffen Dritter, sondern auch durch die Bereitstellung adäquater medizinischer Versorgung. Das steht jedoch unter dem Vorbehalt des Möglichen; keine Gesellschaft kann alle ihre Ressourcen in das Gesundheitssystem stecken. Je nachdem aber, wie gut eine Gesellschaft ihr Gesundheitssystem ausstattet und funktionsfähig hält, verschiebt sie die Grenze zwischen unvermeidbaren und vermeidbaren tödlichen Folgen der "allgemeinen Lebensrisiken". Hier scheint mir der Kern des Abwägungsstreits zu liegen: Es herrscht Uneinigkeit darüber, wo die Grenze zwischen vermeidbaren und unvermeidbaren tödlichen Krankheitsverläufen angesichts des hohen und in seinen Folgen nicht absehbaren Aufwands an Freiheitsverzichten gezogen werden soll – zwischen Minimum und Maximum.
(....) In der Tat suggeriert die Praxis des Abwägens mit der Verhältnismäßigkeits-kontrolle, dass sich mit Ausnahme der in Artikel 1 GG genannten Menschenwürde alle Grundrechte wechselseitig relativeren ließen und dass mal diesem, mal jenem mehr Gewicht als den jeweils anderen eingeräumt werden dürfe. Die Abwägungs-rhetorik enthebt den Rechtsanwender der Mühe, das zu tun, was Dworkin von einer guten Richterin fordert: jedes Recht als Teil einer umfassenden politisch-moralischen Theorie der gesamten Verfassungsordnung zu deuten. Dass es keine Rangordnung unter den Grundrechten gebe, ist insofern zutreffend, als kaum ein konkreter Kollisionsfall ohne Einschränkungen des einen Rechts zugunsten des anderen und umgekehrt lösbar ist. Deshalb auch der Gesetzesvorbehalt, der Einschränkungen unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips erlaubt und gemäß Artikel 1 Absatz 2 Satz 3 GG ausdrücklich auch für das Grundrecht auf Leben gilt."
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