Thursday, October 28, 2021

Why Rawls?

The German webblog "Soziopolis" has asked 11 German philosophers and political scientists the question: "Why Rawls?"

See the answers here: Jürgen Habermas, Beate Roessler, Hubertus Buchstein, Jeanette Ehrmann, Rainer Forst, Lisa Herzog, Otfried Höffe, Luise Müller, Peter Niesen, Walter Reese-Schäfer, and Gary Schaal.


Jürgen Habermas:

Q: Wie sah Ihre erste Begegnung mit Rawls’ Texten aus?

A: Diese erste Begegnung fand unter blamablen Umständen Anfang der 70er-Jahre statt. Ich erinnere nicht mehr das genaue Jahr, als mich Charles Taylor – wir kannten uns aus Montreal und Starnberg – zu einem Vortrag nach Oxford einlud. Am zweiten Tag sollte ich die beiden Heroen der Profession R. M. Hare und P. F. Strawson bei einem Lunch kennen lernen. Das war schon aufregend genug. Aber in Aufruhr geriert ich erst recht, als ich am Vorabend beiläufig erfuhr, dass ich bei dieser Gelegenheit – offenbar war ein Arbeits-Lunch vorgesehen – mit dem soeben nach Oxford berufenen Ronald Dworkin über einen bestimmten Aufsatz diskutieren sollte, und zwar über „Two Concepts of Rules“ von John Rawls. Peinlicherweise kannte ich diesen „allgemein bekannten“ Aufsatz nicht. Den besorgte mir ein freundlicher Kollege noch über Nacht. Bis heute kann ich mich an Einzelheiten dieser ungewöhnlichen Situation – meiner ersten Begegnung sowohl mit einem Text von Rawls wie mit so vielen einschüchternden Geistesgrößen in persona – nicht erinnern. Dasselbe versicherte mit Dworkin, als wir uns später anfreundeten. Sollte alles doch eher unauffällig über die Bühne gegangen sein?

Persönlich habe ich Rawls erst in den 80er-Jahren kennen gelernt, als ich bei einem Besuch in Cambridge sein Seminar besuchte – ich war von der freundlichen Aufmerksamkeit dieser rücksichtsvollen, vollkommen uneitlen Person schon auf den ersten Blick beeindruckt. Ich kenne keinen Kollegen, der durch seine unbestechlich-unprätentiöse Haltung in ähnlicher Weise so unmittelbar ein Distanz wahrendes Vertrauen erweckt. Rawls schien mich zu kennen, weil unser Sohn Tilmann bei ihm studiert hatte. Vor der Veröffentlichung seines Buches Political Liberalism hat er mich dann zu der bekannten Auseinandersetzung im Journal of Philosophy eingeladen. Damals hat übrigens Rainer Forst, der gerade von seinem Studium bei Rawls zurückgekommen war, den clue der Revision, die Rawls inzwischen an der Theorie der Gerechtigkeit vorgenommenen hatte, besser verstanden als ich. Jener erste Gedankenaustausch gab jedenfalls den Auftakt zu einer bis zu Rawls’ Tod nicht abreißenden Reihe von freundschaftlich-lehrreichen Diskussionen, sowohl bei seinen Besuchen in Frankfurt wie auch in den USA. Im Hinblick auf den sachlichen Ertrag unserer Debatte hat James Gordon Finlayson vor zwei Jahren ein vorzügliches Buch publiziert.

Q: Welcher Teil, welche Idee, welcher Begriff, welche Beobachtung des Rawls’schen Werkes ist für Sie von besonderer Bedeutung?

A: Zu meinem Erstaunen stelle ich jetzt an den vielfältigen Anstreichungen und Anmerkungen in meinem Exemplar der deutschen Übersetzung fest, dass ich die Theorie der Gerechtigkeit erst 1975, wohl auf Anregung von Ernst Tugendhat, intensiv gelesen habe. Ich hatte damals den im Gespräch mit Karl-Otto Apel gemeinsam entwickelten Ansatz zu einer Diskursethik im Kopf und war natürlich begeistert, einer im Detail so sorgfältig durchgeführten, unverkennbar Kantianischen Position zu begegnen. Bei uns war ein Jahr zuvor der Sammelband von Manfred Riedel Zur Rehabilitierung der Praktischen Philosophie erschienen – ein unentschiedener Überblick über das breite Spektrum von Ansätzen, die sich in der Bundesrepublik mehr oder weniger im Anschluss an die verschiedenen Traditionen der Ethik entwickelt hatten. Demgegenüber markierte das Buch von Rawls nun eine Zäsur sowohl in methodischer wie in inhaltlicher Hinsicht.

Was das Methodische angeht, gab es – und gibt es bis heute – keine moraltheoretische Untersuchung, die sich in der systematischen Anlage und vor allem im Husserl’schen Pathos der „Durchführung“ mit der Klarheit, dem Reichtum und der Genauigkeit der detaillierten Analysen der Theorie der Gerechtigkeit messen kann. Und um einzuschätzen, was diese Theorie damals inhaltlich bedeutet hat, muss man sich die Situation in der tonangebenden angelsächsischen Philosophie in Erinnerung rufen: In der praktischen Philosophie herrschten dort die empiristischen Ansätze in der sprachanalytischen Nachfolge von Hobbes, Hume, Bentham und John Stuart Mill fast ohne Konkurrenz. Diese Vorherrschaft war mit dem Erscheinen jenes Buches wie auf einen Schlag beendet. An die Stelle von Zweckrationalität, Gefühl, Interesse und Entscheidung trat jetzt die Interessen verallgemeinernde praktische Vernunft. Was mich betrifft, habe ich diese Theorie von vornherein in dem konstruktivistischen Sinne gelesen, den John Rawls 1980 in seinen John Dewey Lectures an der Columbia University ausgeführt hat. Hingegen fand ich den Schritt zum Politischen Liberalismus nicht wirklich überzeugend; nach meiner Auffassung hat Rawls damit der praktischen Vernunft im Kantischen Sinne das letzte Wort zugunsten religiöser und anderer Weltbilder entzogen.

Q: Lohnt es sich aus Ihrer Sicht auch heute noch, Rawls’ Schriften zu lesen?

A: Ein solches Werk, das sich auf so viele einzelne Schritte in der Durchführung jedes tragenden Argumentes stützt, besitzt ein Gewicht, an dem die Philosophie fortan nicht einfach wird vorbeigehen können. Die historistischen Argumente, die heute auf breiter Front gegen Rawls’ Normativismus ins Feld geführt werden, nehmen, soweit ich das noch übersehe, die Auseinandersetzung nicht auf dem Niveau jener Rationalitätsdebatte auf, die während der 1980er-Jahre schon einmal zwischen Davidson, Putnam, Apel, Gadamer, Rorty, Foucault und Derrida geführt worden ist. ‚Ideale Theorien‘ im Sinne von Rawls haben es natürlich mit dem Problem der Rechtfertigung ihrer normativ gehaltvollen Grundbegriffe zu tun. Aber auch rekonstruktive Ansätze stoßen letztlich auf den nicht-hintergehbaren vernünftigen, und das heißt universalen Gehalt von intuitiv vorgenommenen Voraussetzungen, die die Beteiligten ‚immer schon‘ performativ in Anspruch nehmen. Wenn der Historiker dieses allein im Mitvollzug nachzukonstruierende Vollzugswissen aus der Beobachterperspektive erneut objektiviert, nimmt er eine ‚Perspektive von Nirgendwo‘ ein, die es auf dieser Reflexionsstufe nicht mehr geben kann.

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