Thursday, May 30, 2024

Das unvollendete Projekt des Jürgen Habermas

Albrecht von Lucke in "Blätter für deutsche und internationale Politik" (June 2024):

"Go west", trotz alledem. Das unvollendete Projekt des Jürgen Habermas

In honor of Jürgen Habermas, who turns 95 on 18 June.


Excerpts:

Als vor 80 Jahren, im Morgengrauen des 6. Juni 1944, über 5000 Schiffe an der Küste der Normandie anlandeten, war dies nicht nur die größte militärische Aktion der Geschichte, sondern zugleich der eigentliche Schicksalstag vor allem West-Europas und der zukünftigen Bundesrepublik. (.....) Ohne diese, von der Roosevelt-Regierung politisch hart erkämpfte Bereitschaft zum "Go east", zum "Zurück nach Europa", hätte es die Verwestlichung der Bundesrepublik nie gegeben – und damit auch nicht den Philosophen Jürgen Habermas, wie die Welt ihn heute kennt, als ebenjenes "Produkt der Reeducation", als das er seine eigene politische Grund-prägung selbst bezeichnet hat. Am Anfang war Amerika: Für Habermas, der den Einzug der US-amerikanischen Soldaten in seiner Heimatstadt Gummersbach als "eine Befreiung, historisch und persönlich", erlebte, war es die demokratische Urerfahrung, lebensweltlich wie politisch, weshalb der Vorwurf des Anti-amerikanismus gegen ihn stets absurd war. "Go west" bedeutete für Habermas: Erst kam das Erlebnis Amerikas, zu Beginn in der Heimat, später auch an zahlreichen US-Universitäten, und erst dann, auch als Korrektiv irregeleiteter Vereinigter Staaten, das Engagement für Europa, aber beides stets auf Basis seiner Grundprämisse: Kommunikation und Verständigung als universalistisches, demokratisches Antidot gegen das nationalistische Freund-Feind-Denken. (.....) Dieses Jahr werden wir in seiner möglichen weltgeschichtlichen Bedeutung erst von seinem Ende her verstehen. Der 5. November 2024 könnte zum D-Day des 21. Jahrhunderts werden und damit den Vorgänger des 20. Jahrhunderts konterkarieren.

(.......) Mit dem Willen zur Entfeindung steht und fällt letztlich auch das Habermassche Kernprojekt eines möglichst herrschaftsfreien Diskurses als Grundlage der Demokratie. Dabei kommt es zentral darauf an, die wechselseitigen Geltungs-ansprüche anzuerkennen: dass die Aussage des Gegenübers aufrichtig gemeint, der Situation angemessen und wahr, also faktenbasiert ist. Was aber ist, wenn dieser Wahrheitsanspruch heute immer stärker auch technisch unterlaufen wird? Wenn wir es mit einem "neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit" zu tun haben, bei dem die Unterscheidung zwischen wahr und falsch immer weniger möglich ist, da mittels immer "perfekter" werdender Künstlicher Intelligenz sogenannte Deepfakes geschaffen werden können, die kein Mensch mehr von der Realität unterscheiden kann? Im Vergleich zu dieser düsteren Orwell-Welt, die heute längst keine bloße Dystopie mehr ist, wirkt die Retusche der "verdienten Genossen" Kamenew und Trotzki nach Lenins Tod 1924 aus dessen bekanntem Foto tatsächlich wie eine stümperhafte Fälschung aus dem letzten Jahrtausend. Mit der zunehmenden Ununterscheidbarkeit zwischen fact and fiction, zwischen Original und Fälschung, bleibt der wechselseitige Wahrheitsanspruch auf der Strecke, der für jede gelingende Kommunikation existenziell ist – und damit auch die conditio humana, um deren Verteidigung es Habermas letztlich geht. Mit diesem dialektischen Umschlag in Lüge und Unvernunft – auf einer "vollends aufgeklärten Erde, die strahlt im Zeichen triumphalen Unheils" (Horkheimer und Adorno) – droht das universalistische Fortschrittsversprechen des Westens zu scheitern, wird aus Verständigung wieder Feindschaft und Unterwerfung. Damit aber bleibt das unvollendete Projekt des Jürgen Habermas das Projekt der Moderne selbst, aber auch ihr Problem – und damit der unabgegoltene Auftrag an uns alle.

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