Thursday, January 30, 2020

Micha Brumlik reviews Habermas's new book

In "Blätter für deutsche und internationale Politik" 2/2020:

"Vom Nutzen und Vorteil der Religion für die Vernunft"
by Micha Brumlik

Excerpts:

"Habermas‘ Genealogie, die mit der „Versprachlichung des Sakralen“ im Prozess der Hominisation beginnt, sich dann im Okzident mit dem Entstehen der Philosophie, das heißt des Platonismus und somit der Metaphysik fortsetzt, um dann auf der Linie Augustinus-Luther zur radikalen Ausdifferenzierung von Glauben und Wissen zu führen – diese Genealogie gipfelt schließlich zum ersten Mal in den gegensätzlichen „postmetaphysischen“ Philosophien des 18. Jahrhunderts: in den aufeinander zwar Bezug nehmenden, aber doch gegensätzlichen Denktypen von Immanuel Kant hier und David Hume dort. Mit dem so unterschiedlichen Denken dieser beiden Philosophen nimmt die stets und immer wieder – seit „Erkenntnis und Interesse“ – von Habermas bemühte Dichotomie von Teilnehmer- und Beobachterperspektiven die Gestalt philosophischer Perspektiven ein: Der zweite Band seiner „Geschichte der Philosophie“ – mit dem Titel „Vernünftige Freiheit“ – entfaltet am Gegensatz von Hume und Kant zwei höchst unterschiedliche Denkstile, deren einer den menschlichen Anspruch auf Selbstbestimmung und Rationalität nur beobachtend als Ausdruck vernünftig nicht weiter einholbarer Gefühle ansieht – so Hume, während der andere in der Tradition christlicher Innerlichkeit einen nicht weiter reduzierbaren Kern vernünftiger Selbstbestimmung postuliert – so Kant." (......)

"Mindestens mit Ludwig Feuerbach und seiner materialistischen Religionskritik, aber auch mit Kierkegaards Existenzphilosophie steht nun wieder ein, wenn nicht das Hauptmotiv von Habermas’ Geschichte der Philosophie zur Debatte – nämlich die Frage nach dem Verhältnis von Glauben und Wissen und damit nach der anhaltenden gesellschaftlichen Bedeutung der (christlichen) Religion. Dabei wird nicht zuletzt zu betrachten sein, ob und wie es Habermas gelingt, den Eigensinn der Religion, wenn man so will des „Glaubens“, zu rekonstruieren – und zugleich zu fragen, ob er dessen Eigensinn in seinem gesellschaftstheoretischen Ansatz gerecht wird.

So sehr also die Genealogie des okzidentalen Denkens – geboren aus der reflektierten Differenz von Glauben und Wissen – auf eine Theorie nur intersubjektiv möglicher Vernunft hinausläuft, so sehr scheint Habermas der gesellschaftlichen und damit allemal auch politischen Kraft der Vernunft zu misstrauen, weshalb er immer wieder auf die gerade zwischenmenschliche Solidarität verbürgende Kraft der Religion zurückkommt.

Dieses Spannungsverhältnis, das Habermas im Einzelnen an der emanzipatorisch gedachten Religionskritik von Feuerbach, Marx und Peirce diskutiert, macht unübersehbar deutlich, dass er – bei aller Faszination für das, was er als „Religion“ bezeichnet – ihr gegenüber doch durchgängig eine Beobachterperspektive, genauer: eine funktionalistische Perspektive, einnimmt: „Am Ende der Genealogie nachmetaphysischen Denkens“, so heißt es denn auch im ersten Band rein funktionalistisch, „wird die Frage offenbleiben, ob in den pluralistischen und hochindividualisierten Gesellschaften des Westens, die als demokratische Verfassungsstaaten organisiert sind, demokratische Willensbildung und liberale politische Kultur nach der vollständigen Entsakralisierung des Welt- und Selbstverständnisses als säkulares Äquivalent für den einstmals im Rituellen verwurzelten Umgang mit Krisen der sozialen Integration ausreichen werden.“ (......)

"Ganz am Ende, im Postskriptum des zweiten Bandes, bekennt Habermas denn auch, von einem rätselhaften Satz Adornos leitmotivisch bis heute fasziniert zu sein: „Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern.“ In diesem Sinne beschließt Habermas sein Opus Magnum mit dem Eingeständnis, diesen „Einwanderungsprozess“ des Religiösen als einen „Versuch“ dargestellt zu haben, uns – ganz in der Kantischen, kritischen Tradition – „zum Gebrauch unserer vernünftigen Freiheit zu ermutigen“. Wer über das Glücken dieses gewaltigen Versuches urteilen will, wird nicht umhinkommen, sich der Lektüre dieser seit Hegel einmaligen philosophischen Selbstreflexion zu unterziehen."


See links to reviews of Habermas's "Auch eine Geschichte der Philosophie" (Suhrkamp, 2019) here.




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