30 Jahre danach: Die zweite Chance.
Merkels europapolitische Kehrtwende und der innerdeutsche Vereinigungsprozess
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Year 30: Germany's Second Chance (Blätter)
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* Jens Bisky - "Eine Kehrtwende in Europa", Süddeutsche Zeitung, September 1, 2020
* Patrick Bahners - "Tadelnde Anerkennung", Frankfurter Allgemeine Zeitung, September 3, 2020.
* Björn Schumacher - "„Herr der Großdebatten“ erneut im Rampenlicht", Junge Freiheit, September 8, 2020.
* Martin Debes - "Habermas und der "Schock von Erfurt"", Thüringer Allgemeine, September 8, 2020.
* Björn Schumacher - "„Herr der Großdebatten“ erneut im Rampenlicht", Junge Freiheit, September 8, 2020.
* Martin Debes - "Habermas und der "Schock von Erfurt"", Thüringer Allgemeine, September 8, 2020.
* Ute Daniels, Andreas Rödder & Andreas Wirsching - "Die neue Übersichtlichkeit", Frankfurter Allgemeine Zeitung, September 30, 2020.
* Alexander Grau - "Habermas' linker Politstempel", Cicero Online, October 3, 2020.
Excerpts from Habermas' essay:
Dreißig Jahre nach der weltgeschichtlichen Zäsur von 1989/90 könnten die schicksalhaft hereinbrechenden Ereignisse erneut eine Zäsur bilden. Das wird sich in den kommenden Monaten entscheiden – in Brüssel, aber nicht zuletzt auch in Berlin.
Auf den ersten Blick scheint es etwas weit hergeholt, die Überwindung der bipolaren Weltordnung und die globale Ausbreitung des siegreichen Kapitalismus mit dem entwaffnenden Naturschicksal einer anhaltenden Pandemie und einer dadurch ausgelösten weltwirtschaftlichen Krise von einstweilen unbekanntem Ausmaß zu vergleichen. Aber wenn wir Europäer auf diesen Schock tatsächlich eine konstruktive Antwort fänden, würde sich in einer Hinsicht eine Parallele zwischen den beiden Zäsuren anbieten. Damals waren die innerdeutsche und die europäische Einigung wie durch kommunizierende Röhren miteinander verbunden. Heute ist ein Zusammenhang beider Prozesse, der damals auf der Hand lag, zwar nicht derart offensichtlich, doch mit Blick auf den bevorstehenden, wenn auch während der drei zurückliegenden Jahrzehnte eigentümlich blass gebliebenen, Nationalfeiertag liegt folgende Vermutung nahe: Die Unwuchten des innerdeutschen Einigungsprozesses sind gewiss nicht die Ursache für die überraschende Wiederbelebung des europäischen Einigungsprozesses, aber der historische Abstand, den wir heute von diesen inneren Problemen gewinnen, hat dazu beigetragen, dass die deutsche Bundesregierung sich endlich wieder der liegengebliebenen historischen Aufgabe der politischen Gestaltung der europäischen Zukunft zuwendet.
Diesen Abstand verdanken wir nicht nur dem Druck der weltweiten Turbulenzen infolge der Coronakrise; auch innenpolitisch haben sich die Relevanzen entscheidend verändert – und zwar vor allem durch die Verschiebung der parteipolitischen Machtbalance infolge des Aufstiegs der AfD. Gerade dadurch erhalten wir dreißig Jahre nach der Zeitenwende eine zweite Chance, die deutsche und die europäische Einheit gemeinsam zu befördern. (.....)
....warum rufen Merkel und Schäuble heute zu dem Mut auf, der ihnen angeblich vor zehn Jahren gefehlt hat? (....) Was sich innenpolitisch in jüngster Zeit geändert hat – und dafür hatte Merkel schon immer eine Spürnase –, ist der Umstand, dass sich zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik rechts von der Union eine erfolgreiche Partei etablieren konnte, die die Europakritik mit einem bisher unbekannt radikalen, nicht länger verstohlenen, sondern nackt auftretenden, ethnozentrisch gefärbten Nationalismus verbindet. Bis dahin hatte die CDU-Führung stets dafür gesorgt, dass sich der deutsche Wirtschaftsnationalismus in eine europafreundliche Rhetorik einkleiden ließ. Doch mit der Verschiebung der parteipolitischen Machtbalance hat gleichzeitig ein Protestpotential seine Sprache gefunden, das sich im innerdeutschen Einigungsprozess lange aufgestaut hatte. (.....)
Denn in der Bundesrepublik finden, wie gezeigt, zwei komplementäre Entwicklungen statt: In Ost und West sind die reziproke Empfindlichkeit und das Verständnis für die nicht selbst gewählten historischen Unterschiede in der Prägung der politischen Mentalitäten gewachsen. Gleichzeitig ist die politische Bedeutung einer nun auch von der politischen Mitte nicht nur ernst genommenen, sondern angenommenen Auseinandersetzung deutlich geworden: Die AfD schürt einen Konflikt, der sich zwar an den asymmetrischen Folgelasten der innerdeutschen Einigung entzündet hat, den sie nun aber spiegelbildlich zu ihrer Ablehnung der europäischen Einigung in einer nationalistischen und rassistischen Sprache neu inszeniert. Dieser ins Völkische verschobene Konflikt hat heute, weil er nicht mehr entlang der geographischen Grenzen historischer Schicksale, sondern entlang von Parteipräferenzen verläuft, einen gesamtdeutschen Charakter angenommen. Je klarer sich die gesamtdeutschen Konturen dieses Konflikts ausprägen, umso mehr befördert die nun endlich in ganz Deutschland betriebene politische Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus den ohnehin gewachsenen historischen Abstand von den Versäumnissen des Vereinigungsprozesses. Und damit ebenso das Bewusstsein, dass zunehmend andere Probleme in den Vordergrund rücken, die wir angesichts einer autoritärer und unfriedlicher gewordenen Welt sowohl innerhalb Deutschlands als auch in Europa nur gemeinsam lösen können.
Diese innenpolitische Verschiebung der Relevanzen können wir als Chance verstehen, den Prozess der deutschen Einigung zu vollenden, indem wir unsere nationalen Kräfte für den entscheidenden Integrationsschritt in Europa bündeln. Denn ohne europäische Einigung werden wir weder die einstweilen unabsehbaren ökonomischen Folgen der Pandemie noch den Rechtspopulismus bei uns und in den anderen Mitgliedstaaten der Union bewältigen.
Dreißig Jahre nach der weltgeschichtlichen Zäsur von 1989/90 könnten die schicksalhaft hereinbrechenden Ereignisse erneut eine Zäsur bilden. Das wird sich in den kommenden Monaten entscheiden – in Brüssel, aber nicht zuletzt auch in Berlin.
Auf den ersten Blick scheint es etwas weit hergeholt, die Überwindung der bipolaren Weltordnung und die globale Ausbreitung des siegreichen Kapitalismus mit dem entwaffnenden Naturschicksal einer anhaltenden Pandemie und einer dadurch ausgelösten weltwirtschaftlichen Krise von einstweilen unbekanntem Ausmaß zu vergleichen. Aber wenn wir Europäer auf diesen Schock tatsächlich eine konstruktive Antwort fänden, würde sich in einer Hinsicht eine Parallele zwischen den beiden Zäsuren anbieten. Damals waren die innerdeutsche und die europäische Einigung wie durch kommunizierende Röhren miteinander verbunden. Heute ist ein Zusammenhang beider Prozesse, der damals auf der Hand lag, zwar nicht derart offensichtlich, doch mit Blick auf den bevorstehenden, wenn auch während der drei zurückliegenden Jahrzehnte eigentümlich blass gebliebenen, Nationalfeiertag liegt folgende Vermutung nahe: Die Unwuchten des innerdeutschen Einigungsprozesses sind gewiss nicht die Ursache für die überraschende Wiederbelebung des europäischen Einigungsprozesses, aber der historische Abstand, den wir heute von diesen inneren Problemen gewinnen, hat dazu beigetragen, dass die deutsche Bundesregierung sich endlich wieder der liegengebliebenen historischen Aufgabe der politischen Gestaltung der europäischen Zukunft zuwendet.
Diesen Abstand verdanken wir nicht nur dem Druck der weltweiten Turbulenzen infolge der Coronakrise; auch innenpolitisch haben sich die Relevanzen entscheidend verändert – und zwar vor allem durch die Verschiebung der parteipolitischen Machtbalance infolge des Aufstiegs der AfD. Gerade dadurch erhalten wir dreißig Jahre nach der Zeitenwende eine zweite Chance, die deutsche und die europäische Einheit gemeinsam zu befördern. (.....)
....warum rufen Merkel und Schäuble heute zu dem Mut auf, der ihnen angeblich vor zehn Jahren gefehlt hat? (....) Was sich innenpolitisch in jüngster Zeit geändert hat – und dafür hatte Merkel schon immer eine Spürnase –, ist der Umstand, dass sich zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik rechts von der Union eine erfolgreiche Partei etablieren konnte, die die Europakritik mit einem bisher unbekannt radikalen, nicht länger verstohlenen, sondern nackt auftretenden, ethnozentrisch gefärbten Nationalismus verbindet. Bis dahin hatte die CDU-Führung stets dafür gesorgt, dass sich der deutsche Wirtschaftsnationalismus in eine europafreundliche Rhetorik einkleiden ließ. Doch mit der Verschiebung der parteipolitischen Machtbalance hat gleichzeitig ein Protestpotential seine Sprache gefunden, das sich im innerdeutschen Einigungsprozess lange aufgestaut hatte. (.....)
Denn in der Bundesrepublik finden, wie gezeigt, zwei komplementäre Entwicklungen statt: In Ost und West sind die reziproke Empfindlichkeit und das Verständnis für die nicht selbst gewählten historischen Unterschiede in der Prägung der politischen Mentalitäten gewachsen. Gleichzeitig ist die politische Bedeutung einer nun auch von der politischen Mitte nicht nur ernst genommenen, sondern angenommenen Auseinandersetzung deutlich geworden: Die AfD schürt einen Konflikt, der sich zwar an den asymmetrischen Folgelasten der innerdeutschen Einigung entzündet hat, den sie nun aber spiegelbildlich zu ihrer Ablehnung der europäischen Einigung in einer nationalistischen und rassistischen Sprache neu inszeniert. Dieser ins Völkische verschobene Konflikt hat heute, weil er nicht mehr entlang der geographischen Grenzen historischer Schicksale, sondern entlang von Parteipräferenzen verläuft, einen gesamtdeutschen Charakter angenommen. Je klarer sich die gesamtdeutschen Konturen dieses Konflikts ausprägen, umso mehr befördert die nun endlich in ganz Deutschland betriebene politische Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus den ohnehin gewachsenen historischen Abstand von den Versäumnissen des Vereinigungsprozesses. Und damit ebenso das Bewusstsein, dass zunehmend andere Probleme in den Vordergrund rücken, die wir angesichts einer autoritärer und unfriedlicher gewordenen Welt sowohl innerhalb Deutschlands als auch in Europa nur gemeinsam lösen können.
Diese innenpolitische Verschiebung der Relevanzen können wir als Chance verstehen, den Prozess der deutschen Einigung zu vollenden, indem wir unsere nationalen Kräfte für den entscheidenden Integrationsschritt in Europa bündeln. Denn ohne europäische Einigung werden wir weder die einstweilen unabsehbaren ökonomischen Folgen der Pandemie noch den Rechtspopulismus bei uns und in den anderen Mitgliedstaaten der Union bewältigen.