In today's "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (September 30), three German historians - Ute Daniels, Andreas Rödder and Andreas Wirsching - comment on Jürgen Habermas' essay "30 Jahre danach: Die zweite Chance" in "Blätter für deutsche und internationale Politik" 9/2020:
Excerpts:
"Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung sieht Jürgen Habermas die historische Chance, zwei zentrale Versäumnisse zu beheben: die dysfunktionale Europäische Währungsunion durch Schuldenvergemeinschaftung zu korrigieren und den Antikommunismus durch ein Bündnis gegen „rechts“ zu überwinden. Es geht ihm darum, „den Prozess der deutschen Einigung zu vollenden, indem wir unsere nationalen Kräfte für den entscheidenden Integrationsschritt in Europa bündeln“. Denn „ohne europäische Einigung“ würden wir „weder die einstweilen unabsehbaren ökonomischen Folgen der Pandemie noch den Rechtspopulismus“ bewältigen.
Problematisch ist an dieser kühnen Mischung vor allem die pauschale Moralisierung nach dem Muster: Wer nicht für die Vertiefung der EU ist, ist gegen Europa, oder: Links und rechts gleich gut und böse. Was die deutsche Demokratie und die Europäische Union aber brauchen – das ist die eigentliche Lehre der Wieder-vereinigung ebenso wie der europäischen Integration –, sind nicht moralisierende Gewissheiten, sondern ergebnisoffene Debatten. (.....)
Scharf schießt er gegen die „Diskriminierung der Linken“ und die Totalitarismus-theorie. In der Realität hat freilich bis heute keine Polemik den Umstand aus der Welt gebracht, dass sich die Hufeisentheorie immer wieder bestätigt: Anmaßung von Wahrheit und die Unterdrückung des Dissenses sind linken und rechten Gegnern der offenen Gesellschaft zu eigen, identitätspolitischer Cancel-Kultur ebenso wie identitärem nationalistischem Ressentiment.
Pauschalisierungen helfen nicht weiter, wo Differenzierung geboten ist. Gegenüber Extremismen gibt es klar bestimmbare Grenzen des Zulässigen. Dazu braucht es keine Volksfront „gegen rechts“, sondern einen handlungsfähigen Rechtsstaat. Diesseits dieser Grenzen jedoch ist die Aufgabe einer demokratischen Ordnung die Integration."
"Lernen es die Deutschen in der Pandemie-Krise endlich, beherzter als zuvor in Europa zu investieren; und vermögen sie damit zugleich ihre innere Einheit zu vollenden? Der Artikel von Jürgen Habermas enthält mehr, weniger und anderes, als es diese so wichtige und von ihm neu gestellte Kernfrage nahelegt: mehr, weil Habermas treffend das Fehlen einer politischen Öffentlichkeit in der DDR, ostdeutsche Befindlichkeiten und die hieraus folgenden Dichotomien für das wiedervereinigte Deutschland analysiert; weniger insofern, als er die europäische Integration aus einer letztlich sehr deutschen und damit reduzierten Perspektive betrachtet; schließlich auch anderes, denn sein weiter Ausflug in die Geschichte der „Vergangenheitsbewältigung“ verrät zwar biographisches Engagement, hat aber für die gestellte Zukunftsfrage nur begrenzte Relevanz. (.....)
Innenpolitisch ermöglicht es das Bewusstsein der Krise, europapolitische Maßnahmen ohne Beispiel durchzusetzen. Auch deren notorische Gegner in CDU und CSU akzeptieren zumindest das Prinzip. Ein wichtiger Grund hierfür – da hat Habermas ganz recht – liegt in der Existenz der AfD. Mit ihren antieuropäischen Feindbildern spaltet sie das Land, wovon sich die Union um ihres Überlebens willen abgrenzen muss."
1 comment:
The essay by Jürgen Habermas is now also available in English: https://www.blaetter.de/en/2020/09/year-30-germanys-second-chance
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