A new essay by Jürgen Habermas:
"Sich-bestimmen-Lassen. Zum philosophischen Grundgedanken von Martin Seel"
(Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, vol. 68, no. 2 (2023), pp. 68-87).
The essay was written in the spring of 2020.
Abstract
With a philosopher like Martin Seel, reflecting this closely on the literary form in which to present his ideas, it is not surprising that philosophy of language makes for a focus of interest. Since my own interest also points in this direction, I will start with Seel’s groundbreaking essay on literal and figurative speech (I). I will then deal with the concept of "letting oneself be determined" as the pivotal point of Martin Seel’s philosophy (II). The resulting pragmatist understanding of sociocultural forms of life has important consequences for the way in which Seel detranscendentalizes Kant’s epistemology (III). Finally, I will critically examine the conception of a practical philosophy developing aesthetics and morality out of the fundamental question of ethics (IV). In this conception, a self-image of philosophy oriented towards the unity of the true, the good and the beautiful. In my opinion, however, Martin Seel neglects history as a dimension in which reason leaves its traces (V).
Excerpt
"Martin Seel nimmt weder moralische Freiheit noch Emanzipation unter die Modi des Sich-bestimmen-Lassens auf. Ich vermute, dass er zu sehr Ästhetiker und zu sehr Wittgensteinianer ist, um die Dimension der Geschichte als Verlaufsform einer für Gerechtigkeit prozessierenden Vernunft angemessen zu berücksichtigen."
"Auch diese Art von Autonomie kann noch als eine Gestalt des Sich-bestimmen-Lassens verstanden werden, wenn nicht gar als dessen Modell. Denn Kant begreift Autonomie genau nach dieser Denkfigur als die Freiheit, sich im Handeln von den Geboten der praktischen Vernunft "binden" zu lassen. In diesem mysteriösen Kern des "Sich-binden-Lassens" vereinigt sich allerdings das Moment des Sich-von-vernünftiger-Einsicht-bestimmen-Lassens mit der Anerkennung eines kategorischen Sollens, das über die bloße Öffnung gegenüber dem, was mir geschieht, hinausweist. Mit diesem überschießenden, über das Bestehende idealisierend hinausweisenden Charakter des Gesollten entsteht das Bewusstsein, dass es an uns liegt, keinen Fehler zu machen. Im Vergleich zu jener Ermächtigung und Bestimmung, die das kommunikativ handelnde Subjekt einerseits durch seine Sprachkompetenz und andererseits durch den jeweils aktuellen sowie den einsozialisierten lebensweltlichen Kontext erfährt und durch sich hindurch zur Wirkung kommen lässt, nimmt im Falle moralischer Forderungen mit der Schwelle möglicher Verfehlungen die Zumutung einer Selbstermächtigung dramatisch zu. Daher gibt es zwischen diesen beiden Alternativen der Zustimmung des subjektiven Geistes zur Ermächtigung durch den objektiven Geist auf der einen, und der Einwilligung des subjektiven Geistes in die Zumutung des objektiven Geistes auf der anderen Seite ein Mittleres, das man erst versteht, wenn man wie Marx auch den Charakter der schon angedeuteten Naturwüchsigkeit des objektiven Geistes in Rechnung stellt, der den subjektiven Geist "mit Gründen täuschen" kann. Wie sich der subjektive Geist von diesen Fesseln des objektiven Geistes befreien kann, zeigt sich freilich nur in seltenen Augenblicken der Emanzipation. Auch diese vollzieht sich im Modus des Sich-bestimmen-Lassens zugleich an und mit dem subjektiven Geist und beleuchtet sowohl in der Lebensgeschichte des Einzelnen wie auch in der Geschichte der Völker ein Mittleres zwischen den Konventionen des Alltags und den Herausforderungen zu moralisch bewusstem Handeln. Und zwar sind das die Momente einer leidenschaftlich inspirierten, jedoch zugleich getriebenen Befreiung – sei es zur Autonomie des Heranwachsenden, sei es zur Erringung institutionalisierter und rechtlich gesicherter Freiheiten. Diese Verwicklung in Prozesse einer "Freiheit im Werden" ist ein Modus des Sich-bestimmen-Lassens diesseits der Moral und des schon geltenden Rechts. Solche Momente einer durch lebensgeschichtliche oder gesellschaftliche Krisen beglaubigten und legitimierten Befreiung vergessen sich auch dann nicht, wenn eine Revolte kurzfristig scheitern sollte – wie zurzeit jene bewegenden, hartnäckig durchgehaltenen Proteste der unbeugsamen belarussischen Frauen, ja, überwiegend Frauen, die mit Blumen in den Händen den hemmungslos prügelnden Schlägern eines repressiven Regimes selbstbewusst die Stirne bieten."
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