Thursday, September 30, 2021

Interview with Habermas in "Philosophie Magazin"

A new interview with Jürgen Habermas in "Philosophie Magazin, Sonderheft 19: Kritische Theorie" on critical theory, the Corona crisis, the political shift to the right, identity politics and the future of Europe:

"Es gibt keine unbeweglichen Identitäten

Excerpts: 

"Das alte Problem, wie die kapitalistisch erzeugten Krisen und die wachsenden sozialen Ungleichheiten durch staatliche Regulierung aufgefangen werden können, ist nicht verschwunden; es hat sich sogar verschärft."

"Adorno war eine Person, die nicht nicht denken konnte. Er stand fast immer unter Strom. Das hatte fast etwas Schmerzhaftes. Umso entspannter waren gastfreundliche Abende in kleiner geselliger Runde, wenn sich der Hausherr sicher fühlen durfte."


Thursday, September 09, 2021

Habermas: The New Historians' Dispute

A short essay by Jürgen Habermas in the German "Philosophie Magazin" (6/2021, Oktober/November, pp. 10-11):

"Der neue Historikerstreit"


See also Jens-Christian Rabe's article on Habermas' essay in "Süddeutsche Zeitung" (September 10, 2021). 

Excerpt: "Seit einer guten Weile tobt eine Diskussion, die unter dem Namen Historikerstreit 2.0 firmiert. Das ist nicht ganz korrekt, aber auch nicht ganz falsch. Wie beim ersten Historikerstreit spielt die Frage nach der Vergleichbarkeit oder Unvergleichbarkeit des Holocaust eine zentrale Rolle. Diesmal allerdings unter etwas anderen Vorzeichen. Eher dem linken politischen Spektrum zuzuordnende Genozid-Forscher und Afrikawissenschaftler wie A. Dirk Moses, Michael Rothberg oder Jürgen Zimmerer kämpfen energisch für die These, dass die zentrale Rolle, die die Behauptung der Singularität des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur hat, einer angemessenen Beachtung der deutschen Kolonialverbrechen, etwa des Völkermords an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika zwischen 1904 und 1908, im Weg steht. Gegner dieser Überlegungen wittern Relativierung und linken Antisemitismus. Dass sich Jürgen Habermas, der wichtigste - linke - Protagonist des Historikerstreits 1.o in den Achtzigern und berühmteste lebende deutsche Philosoph, bislang dazu noch nicht zu Wort meldete, wurde zuletzt entsprechend oft bedauert. Nun ist es so weit. Anders als es viele Beobachter erhofft haben dürften, äußert sich der durchaus machtbewusste Habermas, der als öffentlicher Intellektueller auch scharf abkanzeln kann, nun allerdings - entgegen dem oft sehr polemischen Stil vieler Diskussionsteilnehmer der vergangenen Monate - sehr differenziert und genau, fast salomonisch. Man darf sich den 92-jährigen Philosophen als hellwachen, so kritischen wie emphatischen Beobachter der aktuellen Debatten um Identitätspolitik und Diskriminierung vorstellen."

Update:

See Dirk Moses's response in "Berliner Zeitung" (October 2, 2021): "Dialektik der Normalisierung".


Wednesday, September 01, 2021

Habermas on the Corona Crisis

New article by Jürgen Habermas:

"Corona und der Schutz des Lebens. Zur Grundrechtsdebatte in der pandemischen Ausnahmesituation", 

(Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/2021, pp. 65-78).

Excerpt:

"Im internationalen Vergleich zeichnet sich die Coronapolitik der deutschen Regierung(en) durch einen relativ strengen, wenn auch nicht konsequent durchgesetzten Kurs aus. Die von Angela Merkel verfolgte Politik der Bundesregierung konnte sich dabei auf den mehr oder weniger einhelligen Rat der wissenschaftlichen Experten sowie auf die Medienpräsenz einzelner hartnäckiger Fachpolitiker (wie Karl Lauterbach) und einflussreicher Ministerpräsidenten (wie Markus Söder) stützen. Von geringfügigen Schwankungen abgesehen, ist dieser Regierungskurs von einer klaren Bevölkerungsmehrheit unterstützt worden. Allerdings ließ sich die Bundeskanzlerin bei der Verfolgung dieser Linie aufgrund ihres pragmatisch-abwartenden Regierungsstils vom vielstimmigen Einspruch der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten ohne zwingenden Grund zwei Mal bremsen – bis sie schließlich angesichts der drastischen Folgen ihrer Führungsschwäche „die Notbremse“ gezogen hat. Wenn ich die öffentlich zugänglichen Informationen und Einschätzungen richtig deute, hätte eine strenger durchgehaltene Vorbeugung gegen den Ausbruch der zweiten und der dritten „Welle“ der Coronainfektionen sowohl weniger Tote als auch weniger lange anhaltende Kontaktbeschränkungen und damit geringere ökonomische Einbußen erfordert. Ob Regierung und Bevölkerung daraus für die Vermeidung einer vierten Welle gelernt haben, steht dahin.

Wie in anderen Ländern wurde die öffentliche Diskussion auch in der Bundesrepublik von den einschlägigen Themen beherrscht – von der jeweils drohenden Überlastung des Gesundheitssystems, von den vorbeugenden Hygiene- und Schutzmaßnahmen, dem Nachschub an Hilfsmitteln wie Masken, Tests, vor allem von der Entwicklung, Zulassung, Verteilung, kurzum der Verfügbarkeit der Impfstoffe. Eine genuin politische Dimension erhielt die Debatte jedoch erst durch den Streit über die rechtliche Zulässigkeit von Strategien und Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie. Dabei wurden allerdings die kontroversen Hintergrundannahmen, von denen sich die Verteidiger und die Gegner von mehr oder weniger strikten Auflagen haben leiten lassen, nicht deutlich deklariert.

In diesem Zusammenhang kann ich auf ein neues und für die nächste Zukunft ernstlich beunruhigendes Phänomen an dieser Stelle nicht genauer eingehen – ich meine die politisch aggressive und verschwörungstheoretisch begründete Verleugnung der pandemiebedingten Infektions- und Sterberisiken. Wegen ihres rechtsradikalen Kerns sind die scheinliberal begründeten Proteste der Corona-Leugner gegen die vermeintlich konspirativen Maßnahmen einer angeblich autoritären Regierung nicht nur ein Symptom für verdrängte Ängste, sondern Anzeichen für das wachsende Potential eines ganz neuen, in libertären Formen auftretenden Extremismus der Mitte, der uns noch länger beschäftigen wird. In unserem Zusammenhang interessiert mich ein anderer Aspekt, unter dem sich politische Lager im Streit über die richtigen Maßnahmen der Pandemiebekämpfung ausgebildet haben, nämlich die Frage, ob der demokratische Rechtsstaat Politiken verfolgen darf, mit denen er vermeidbare Infektionszahlen und damit auch vermeidbare Todesfälle in Kauf nimmt."

Update (13-10-2021):

See also Andreas Rosenfelder's extensive response in "Die Welt" (October 13, 2021): 

Die Habermas-Diktatur

Excerpts:

"Habermas entwirft in den "Blättern", einst das Leitmedium der 1968er-Bewegung, nicht weniger als den totalen Corona-Staat - ein rechtliches Monstrum, das in seiner Allgewalt, wenn man Habermas beim Wort nimmt, jedes No-Covid-Regime von China bis Australien in den Schatten stellt. Denn der Staat, den Habermas skizziert, darf das Ziel einer konsequenten Infektionsvermeidung nicht nur verfolgen. Nein: Er muss alles tun, um es zu erreichen." (.....)

"Die Zielbestimmung der deutschen Pandemiepolitik, "eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern", ist Habermas viel zu schwach und zu vage. Wenn der Lebensschutz die Regierung zum statistischen "Minimierungsziel" verpflichtet, was Habermas offenbar annimmt, also dazu, "die Zahl der an Corona Verstorbenen so niedrig wie möglich zu halten" - dann gibt es nach Meinung von Jürgen Habermas keinerlei "Spielraum" mehr." (.....)

"Die nun plötzlich behauptete "Pflicht" des Staates, "alle Strategien auszuschließen, bei denen er Gefahr läuft, die wahrscheinliche Gefährdung von Leben und körperlicher Unversehrtheit einer vorhersehbaren Anzahl unschuldiger Bürger in Kauf zu nehmen" und - wie es in einem geradezu grotesken Zusatz heißt - "also selber zu verursachen", führt ohne Umwege zur Idee eines Staates, der zur Kontrolle und Beschränkung sämtlicher Lebensbereiche verdammt ist: "Überwachen und Strafen", wie Habermas' leider viel zu früh verstorbener Kollege Michel Foucault das 1975 genannt hat." (.....)

"Denn wenn der Staat wirklich alles tun muss, was vermeidbare Infektionen verhindert, dann sind ausnahmslose Ausgangssperren, radikalste Kontaktverbote und die dauerhafte Schließung aller öffentlichen Institutionen von der Schule bis zum Schwimmbad nicht nur möglich, sondern geboten. Dann dürfte wirklich niemand mehr seine Wohnzelle verlassen, und Militärpolizisten in Schutzanzügen müssten Wasser und Brot in die Treppenhäuser stellen. Und da der Habermas-Staat zur Unterbindung sämtlicher Infektionen gezwungen ist, müsste er diese auch mit Zwang durchsetzen - im Zweifel also durch körperliche Gewalt, hohe Freiheitsstrafen oder den Entzug anderer Grundrechte."