Jürgen Habermas's speech at a SPD meeting in Potsdam (February 2, 2014) is published in "Blätter für deutsche und internationale Politik" 2014/3:
»Für ein starkes Europa« – aber was heißt das?
You can hear the speech on SoundCloud here [37 minutes].
Excerpt:
"Schritte nach vorn
(a) Die bestehenden EU-Institutionen müssen so ausdifferenziert werden, dass sich eine Euro-Union, die für weitere Beitritte anderer EU-Staaten (vor allem Polens) offen steht, herausbildet. Eine Union, die über Kern und Peripherie verfügt, kann sowohl britischen Wünschen nach Rückübertragung bestimmter Kompetenzen wie auch umstrittenen Beitrittswünschen (beispielsweise der Türkei) eher entgegenkommen, als das im Rahmen der bestehenden Verträge möglich ist. Eine Änderung des Primärrechts, für die es gut durchdachte Vorschläge gibt, würde aber erst im Zuge der Durchführung eines zunächst innerhalb der Eurogruppe zu beschließenden Politikwechsels fällig.
(b) Mit dem im Verlauf der Krise noch verstärkten Vorrang der intergouvernementalen Methode muss zugunsten der Gemeinschaftsmethode gebrochen werden. Während die Versammlung von Regierungschefs, die sich allein vor nationalen Wählern legitimieren, auf das Aushandeln von Kompromissen zwischen unbeweglichen nationalen Interessen zugeschnitten ist, macht es die politische Willensbildung in einem nach Fraktionen gegliederten Europäischen Parlament möglich, dass die nationalen Interessen durch eine Interessenverallgemeinerung über nationale Grenzen hinweg aufgewogen werden.
(c) Die bevorstehende Europawahl bietet vor dem Hintergrund des europaweit lebhaft umstrittenen Krisenmanagements zum ersten Mal die Gelegenheit einer Politisierung der Agenda. Ohne eine solche Politisierung kann es eine Europawahl, die den Namen einer demokratischen Wahl verdient, überhaupt nicht geben – und hat es bisher in der Tat nicht gegeben. Erst gemeinsame Kandidaten und Listen können über nationale Grenzen hinweg verschiedene Programme – und damit überhaupt Wahlalternativen – erkennbar machen. Diesem Anfang muss ein europäisches Wahlrecht folgen. Und aus den lockeren Parteienfamilien muss sich ein europäisches Parteiensystem entwickeln.
(d) Schließlich müssen sich die politischen Eliten zu einem Ende der Bequemlichkeit bereitfinden: Sie müssen die Abschottung ihrer Europapolitik vom heimischen Wählerpublikum (die undemokratische Entkoppelung der policies von politics) ebenso aufgeben wie die zu Hause geübte populistische Mischung aus Brüssel-Bashing und unverbindlich-europafreundlicher Sonntagsrhetorik. Abweichend von ihren Routinen dürfen sie den Kampf der Meinungen nicht nur im Schlepptau demoskopischer Umfragen, sondern mit dem Ziel strukturieren, öffentliche Meinungen überhaupt erst zu bilden. Denn bisher bestehen in den nationalen Öffentlichkeiten überwiegend Vorurteile zu „Brüssel“, aber keine belastungsfähig informierten Meinungen, die ernsthaft miteinander konkurrieren.
In Europa haben wir heute glücklicherweise intelligente Bevölkerungen und nicht jene Sorte von emotional zusammengeschweißten nationalen Großsubjekten, die uns der Rechtspopulismus einreden möchte. Für eine nach wie vor in Nationalstaaten verankerte supranationale Demokratie brauchen wir kein europäisches Volk, sondern Individuen, die gelernt haben, dass sie beides, Staatsbürger und europäische Bürger, in einer Person sind. Und diese Bürger können, wenn auch die Medien ihrer Verantwortung gerecht werden, sehr wohl in ihren jeweils eigenen nationalen Öffentlichkeiten an einer europaweiten politischen Willensbildung teilnehmen. Dafür brauchen wir nichts anderes als die bestehenden nationalen Öffentlichkeiten und die vorhandenen Medien. Diese politischen Leitmedien müssen allerdings eine komplexe Übersetzungsaufgabe übernehmen, sobald sich die nationalen Öffentlichkeiten weit genug füreinander öffnen; sie müssen wechselseitig auch über Diskussionen berichten, die in den jeweils anderen Ländern zu den relevanten und alle Unionsbürger gemeinsam betreffenden Themen stattfinden."
Abridged versions of the speech have been published in
* La Repubblica (February 7): La nuova Europa in quattro mosse
* Le Monde (February 25): Repolitisons le débat européen
[See also here]
* Information (April 5): Hvis Europa skal reddes
An English translation has been published in the journal of the Institute for Public Policy Research (IPPR) in London: "In Favour of a Strong Europe".
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