"Europa, Ungarn und das Projekt einer transnationalen Demokratie" [pdf]
In his speech Habermas criticized Hungary's prime minister, Viktor Orbán, and the government.
Excerpts:
"Ich freue mich, wieder einmal in Budapest zu sein, zum dritten Mal seit 1989. Ich freue mich vor allem, alte Freunde wiederzusehen. Aber ich möchte auch die in letzter Zeit undurchsichtiger gewordene Lage der Nachbarn, mit denen wir doch vertraut zu sein meinten, besser verstehen lernen. Dieses Mal mischt sich nämlich in die Vorfreude auf ein Wiedersehen mit dieser schönen, im europäischen Gedächtnis so erinnerungsträchtig verankerten Metropole an der Donau ein anderes Gefühl – das Gefühl, dass die Entfernung größer geworden ist. Ungarn scheint sich von Europa entfernt zu haben, obwohl es doch die Ungarn waren, die 1989 als erste den Eisernen Vorhang durchlöchert haben. [.......]
1956 waren es die Ungarn, die unter dem Reformkommunisten Imre Nagy der sowjetischen Unterdrückung den stärksten Widerstand entgegengesetzt und später innerhalb des sowjetischen Herrschaftsbereichs ein vergleichsweise „liberales“ Regime, wenn man so will, durchgesetzt haben. Deshalb war nach der Epochenwende von 1989 die Linke keineswegs wie in anderen postkommunistischen Ländern vollständig diskreditiert. Natürlich hat Ungarn nach dem Systemwechsel das ökonomische Schicksal dieser Länder geteilt. In nicht-larmoyanten Worten hat Janos Háy diesen Erfahrungen einen bewegenden literarischen Ausdruck verliehen. Während jener Übergangsperiode waren dies, nachdem das lange verschlossene Tor zum „märchenhaften Abendland“ aufgesprungen war, die niederdrückenden Erfahrungen einer neuen sozialen Ungleichheit, einer Entwurzelung und Pauperisierung ganzen Schichten, einer Verödung von ganzen Produktionszweigen und Landstrichen. Im Gegenlicht der wiedergewonnen Freiheit schmerzte die Reaktion auf dieses Elend umso mehr: Das Goldene Tor steht sperrangelweit offen....(Aber) nicht das moderne Denken hat unsere Grenzen überschritten, sondern das bunte Blendwerk des westlichen Marktes, die Reklamen, die grellen Privatsender, die inmitten dieser Verwahrlosung wie die Plastiktüten wirken, die wir einst so stolz mit uns herumgetragen hatten.“
Diese eindringliche Beschreibung beantwortet freilich nicht die Frage, warum gerade in Ungarn nach dem in Mitteleuropa üblichen Auf und Ab der politischen Eliten, nach dem üblichen Hin und Her zwischen Aufbruch und Korruption, nach dem Pendelschlag zwischen Margareth Thatcher und Nostalgie - warum nur hier das Ergebnis einer ganz gewöhnlichen demokratischen Wahl zu einer „Revolution an der Wahlurne“ umdeklariert worden ist. Wie Sie wissen, haben jene energischen Maßnahmen, die einen Regierungswechsel zu einem Regimewechsel vertiefen und verstetigen sollten, im übrigen Europa Sorgen ausgelöst. Es wäre falsche Höflichkeit, wenn ich um diese Befürchtungen herumreden würde. Ein bekannter deutscher, heute in Princeton lehrender Politikwissenschaftlers, der lange in diesem Lande gelebt und gearbeitet, übrigens auch seine Frau hier gefunden hat, warnt davor, „dass die Demokratisierungsprozesse in den relativ neuen EU-Staaten vielleicht doch umkehrbar sein könnten. Man denke an Rumänien, wo im Sommer 2012 ein vom Parlament initiierter ‚kalter Coup’ nur knapp scheiterte, und vor allem an Ungarn, wo die Regierung des national-populistischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán den Rechtsstaat seit 2010 immer weiter aushöhlt und – so viele Kritiker im In- und Ausland – dabei ist, eine ‚illiberale’ oder gelenkte Demokratie zu errichten.“ [Jan-Werner Müller]
Meine Damen und Herrn, mir fehlt die Kompetenz, um diese Entwicklung zu beurteilen. Ich habe nur über meine gemischten Gefühle nachgedacht. Auch diese Bemerkung hätte ich unterdrückt, wenn ich nicht als Kollege und Freund persönlich davon betroffen wäre, dass eine bedeutende ungarische Philosophin [Ágnes Heller] nach einem schweren politischen Lebensschicksal - nach der tödlichen Bedrohung des jungen Mädchens im Budapest des Jahres 1944, nach einer Dissidenten-Existenz in diesem Lande, nach der belastenden Emigration in Australien und in den USA und nach dem Aufatmen einer glücklichen Rückkehr in die befreite Heimat – dass eine solche von der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts gezeichnet Person noch in ihrem neunten Lebensjahrzehnt erneut politischen Anfeindungen in der Öffentlichkeit und Repressalien vonseiten der Justiz ausgesetzt worden ist. Das habe ich mir in Ungarn nicht vorstellen können."
See my previous post on the event here.
See also Habermas's article on the political situation in Hungary: "Protect the Philosophers!" (2011).
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