Wednesday, July 04, 2018

Habermas: "Are we still good Europeans?" [Update]

Jürgen Habermas's acceptance speech for receiving the German-French Journalist Prize in Berlin on July 4, 2018:

Sind wir noch gute Europäer?
("Die Zeit", July 5, 2018)

Are We Still Good Europeans?
("Die Zeit", July 6, 2018)

Are We Still Good Europeans?
("Social Europe", July 13, 2018)

Les populismes de droite proviennent de l’absence de volonté politique en Europe
("Le Monde", July 29, 2018)

A short video from the event here.

Excerpts

"Die Bundesregierung steckt ihren Kopf in den Sand, während der französische Präsident den Willen deutlich macht, Europa zu einem globalen Mitspieler im Ringen um eine liberale und gerechtere Weltordnung zu machen. Auch das Echo, das der Kompromiss von Meseberg in der deutschen Presse gefunden hat, ist irreführend – als hätte Macron mit der Zusage zum Euro-Zonen-Budget einen dringend benötigten Erfolg im Austausch gegen seine Unterstützung für Merkels Asylpolitik erhalten. Das verwischt die Differenz, dass Macron wenigstens den Einstieg in eine Agenda erreicht hat, die weit über die Interessen eines einzelnen Landes hinausreicht, während Merkel um ihr eigenes politisches Überleben kämpft. Macron wird für die soziale Unausgewogenheit seiner Reformen im eigenen Land zu Recht kritisiert; aber er ragt über das europäische Führungspersonal hinaus, weil er jedes aktuelle Problem aus einer weiter ausgreifenden Perspektive beurteilt und daher nicht nur reaktiv handelt. Ihn zeichnet der Mut zu einer gestaltenden Politik aus. Und deren Erfolge widerlegen die soziologische Aussage, dass die Komplexität der Gesellschaft nur noch ein konfliktvermeidendes Reagieren zulasse."

"Dem antikisierenden Blick auf das immergleiche Auf und Ab der Imperien entgeht das historisch Neue an der heutigen Situation. Die funktional immer dichter zusammenwachsende Weltgesellschaft ist politisch nach wie vor fragmentiert. Diese Entwaffnung der Politik erzeugt ein Gespür für die Schwelle, vor der die Bevölkerungen heute den Atem anhalten und zurückschrecken. Ich meine die Schwelle zu supranationalen Formen einer politischen Integration, die von den Bürgern verlangt, dass sie, bevor sie ihre Stimme abgeben, auch über nationale Grenzen hinweg gegenseitig die Perspektive der jeweils anderen übernehmen. Die Anwälte des politischen Realismus, die darüber ihren Hohn ausschütten, vergessen, dass ihre eigene Theorie auf den Fall des Kalten Kriegs zwischen zwei rationalen Spielern zugeschnitten war. Wo ist die Rationalität des Handelns in der heutigen Arena? Historisch betrachtet, ist der fällige Schritt zu einer politisch handlungsfähigen Euro-Union die Fortsetzung eines ähnlichen Lernprozesses, der mit der Herausbildung des Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert schon einmal stattgefunden hat. Auch damals ist das über Dorf, Stadt und Region hinausgreifende Bewusstsein nationaler Zusammengehörigkeit nicht naturwüchsig entstanden; vielmehr ist es von den tonangebenden Eliten den schon bestehenden funktionalen Zusammenhängen der modernen Flächenstaaten und Volkswirtschaften zielstrebig angepasst worden. Heute werden die nationalen Bevölkerungen von politisch unbeherrschten funktionalen Imperativen eines weltweiten, von unregulierten Finanzmärkten angetriebenen Kapitalismus überwältigt. Darauf kann der erschrockene Rückzug hinter nationale Grenzen nicht die richtige Antwort sein".


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See also the laudatio by the German Minister of Foreign Affairs Heiko Maas here.

An excerpt:

"Wie kein anderer haben Sie sich durch Ihr leidenschaftliches Bekenntnis zu diesem Europa um die deutsch-französische und die europäische Verständigung verdient gemacht: als Philosoph und Soziologe, als Vortragender, als Essayist, und als intellektueller Brückenbauer zwischen Deutschland und Frankreich.
Der politisch engagierte Intellektuelle ist ja in Deutschland eher selten, aber dafür umso wichtig. Manchmal schauen wir etwas neidisch, je nach Blickwinkel vielleicht manchmal auch etwas erschrocken, nach Frankreich, wo der öffentliche Streit und die intellektuelle Auseinandersetzung mit sehr viel mehr Herzblut auch öffentlich ausgetragen werden. Debattenbeiträge im Fernsehen, im Radio oder auf den Meinungsseiten von Le Monde, Libération oder Le Figaro setzen dort den Ton auch für die Debatten in der Politik. Und das tun auch Intellektuelle. So wirkmächtig kann Philosophie, Soziologie oder Politikwissenschaft sein, zumal bei unseren französischen Nachbarn.

Sie, lieber Herr Professor Habermas, verkörpern fast schon idealtypisch diese offensive, französische Lust zur Stellungnahme, zur Positionierung bei uns in Deutschland. Sie sind ein Mann des Geistes, jedoch einer mit ausgeprägtem Bürgersinn und Verantwortungsgefühl für das sogenannte große Ganze.
Ihre Debattenbeiträge überwinden die von Hegel kritisierte „Ohnmacht des Sollens“, denn sie bleiben nie nur im Appellativen. Sie sind durch Realitätssinn und Pragmatismus gehärtete Handlungsmaximen - gerade auch für uns als Politiker."

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See also Joachim Lottmann's outrageous and provocative comments: "Die Mitveranwortung linker Denker am Rechtsruck in Deutschland" (Die Welt, July 6, 2018).

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