In memory of the Hungarian philosopher Ágnes Heller, who died on July 19, Jürgen Habermas wrote a comment in “Frankfurter Allgemeine Zeitung” (July 22, 2019):
Excerpts:
“Ágnes Heller war eine Philosophin der alten Schule. Als ich sie Mitte der sechziger Jahre bei Iring Fetscher in Frankfurt kennenlernte und ihr bei den jährlichen Treffen der Praxis-Philosophen auf der Insel Corcula wiederbegegnete, erschien sie uns, bei aller Verwandtschaft in der kritischen Orientierung ihrer Gedanken, als die junge, bestechende Verkörperung eines philosophischen Profils, das wir aus der Generation unsrer Lehrer kannten. Aus unserer Perspektive hatte sich unter den interessanteren Kollegen des "Ostblocks", wie man damals sagte, ein Erbe des deutschen Idealismus erhalten - eine vom Fallibilismus der Wissenschaften noch unberührte Selbstgewissheit, die wir aus der zeitgenössischen Philosophie der westlichen Länder nicht mehr kannten. Dieses ungebrochene philosophische Selbstbewusstsein verband sich bei der jungen Ágnes Heller mit der Frische eines unbefangen-offenen Geistes - und traf wohl überhaupt einen Zug an der Mentalität jener Schüler, die sich im Budapest der fünfziger Jahre um Georg Lukács versammelt hatten. Aber diese Beobachtung konnte den Blick auf die geistige und politische Unabhängigkeit, den humanistischen Impuls und die wissenschaftliche Produktivität dieser Gruppe nicht verstellen. Das Bewusstsein geistiger Souveränität war wohl auch ein Schutzschild für Ágnes Heller und ihre Freunde, die nach der Niederschlagung des Aufstandes von 1956 als politische Dissidenten verfolgt und schließlich zur Emigration genötigt wurden.
Im Laufe der Jahrzehnte habe ich gelernt, in diesem idealistischen Selbstverständnis und dem Gefühl, ja, einer gewissen Berufung zur Philosophie nur eine andere Seite des bewundernswert festen Charakters einer stolzen, zugleich mutigen und lebensklugen Frau zu sehen. Angesichts der Präsenz dieser starken Persönlichkeit frage ich mich, ob nicht den Lesern, die nur ihre Bücher kennen, ein guter Teil der Energie und der Leidenschaft dieser Autorin unzugänglich bleiben muss. Das mag für ihr erstes, 1967 in Ungarn erschienenes Buch "Der Mensch in der Renaissance" am wenigsten zutreffen: An dieser Epoche und ihren großen Erscheinungen feiert Ágnes Heller ganz unverstellt den humanistischen Geist und die in ihm kristallisierten Tugenden. Was sie als Philosophin auszeichnet und mit Hannah Arendt tatsächlich verbindet, ist die Fähigkeit, diese Emphase für erhebende Ideen mit den verblüffend einfachen Evidenzen alltagskluger Erfahrungen und Weisheiten zusammenzuführen.
Ágnes Heller ist eine Philosophin im alteuropäischen Sinne. In ihrem Denken spiegelt sich ein ungewöhnliches Leben, eine schmerzhafte Lebensgeschichte. (….)
Ágnes Heller hat sich nicht als Intellektuelle verstanden; sie hat auf ihre Weise als Philosophin gelebt. Und daraus die Kraft geschöpft, an den Widerständen des Zeitalters nicht zu zerbrechen.”
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