Thursday, November 14, 2019

Interview with Habermas in Neue Zürcher Zeitung

Henning Klingen interviews Jürgen Habermas in Neue Zürcher Zeitung (November 14, 2019):

"Die Philosophie muss nicht zur Verbesserung unseres Wissens von der Welt beitragen – sie soll darauf reflektieren, was diese Wissensfortschritte für uns bedeuten"

[Update: The interview is reprinted under the title “Mehr als alles, was der Fall ist” in Internationale katholische Zeitschrift “Communio”, vol. 48, no. 6 (2019), pp. 654-658.]

Excerpts

"Mein Narrativ erinnert daran, dass die Philosophie einen rationalen Beitrag zur Klärung unseres Welt- und Selbstverständnisses leisten kann. Philosophie ist gewiss eine wissenschaftliche Denkungsart, die aber darüber aufzuklären versucht, wie wir uns heute als Menschen, als Personen und Individuen, auch als Zeitgenossen verstehen können. Dabei geht es, wohlgemerkt, um eine theoretische Orientierung, nicht um das Verhältnis von Philosophie und Öffentlichkeit. 
Es geht eher um eine Hintergrundkontroverse darüber, wie weit die menschliche Vernunft reicht. Erstreckt sich unser fallibles Wissen nur auf das, was der Fall ist? Wir können uns auch über moralische und rechtliche Konflikte, über Kunstwerke und ästhetische Erfahrungen, sogar über die in Lebensformen oder individuellen Lebensentwürfen verkörperten Wertorientierungen mit Gründen auseinandersetzen. Das Spektrum von Gründen, die ins Gewicht fallen, reicht offensichtlich über den Bereich empirischen und theoretischen Wissens hinaus. Wenn aber solche Argumente ebenso «zählen», ist darin die Überzeugungskraft einer praktischen Vernunft am Werk, die nicht in einer für praktische Zwecke bloss in Dienst genommenen theoretischen Vernunft aufgeht. Dann dürfen wir aber auch solche Lernprozesse erwarten, die sich nicht in einer Steigerung von Produktivkräften niederschlagen, die sich vielmehr in Institutionen der Freiheit und der Gerechtigkeit verkörpern. Historische Umstände fordern uns zu solchen oft schmerzlichen normativen Lernprozessen heraus. Dabei lernen wir, wenn alles gut geht, unterprivilegierte Andere in unsere Lebensformen einzubeziehen oder diskriminierte Fremde als gleichberechtigte Andere in einer gemeinsam erweiterten Lebensform anzuerkennen. (.....)
Im Hinblick auf die Frage «Was sollen wir tun?» plädiere ich dafür, der praktischen Vernunft mehr als nur kluge, an je eigenen Präferenzen, Werten oder Gefühlen orientierte Entscheidungen zuzutrauen. Wir können aus der Einsicht in die verletzbaren Strukturen unseres Zusammenlebens gute Gründe für die kantische Idee der Gerechtigkeit und für allgemein verbindliche normative Orientierungen des Handelns gewinnen."

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