In "Die Zeit" (November 7, 2019) Petra Bahr reviews Habermas's "Auch eine Geschichte der Philosophie" (Suhrkamp Verlag):
Der Sinn hinter allem
Excerpts:
Das Alterswerk des Philosophen Jürgen Habermas ist eine Zumutung – und die grandiose Hymne eines religiös Unmusikalischen auf Glaube und Theologie.
"Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen. Ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, ins Profane einzuwandern." Nach 1.800 Seiten eine persönliche Bemerkung: Dieses Zitat von Theodor W. Adorno habe ihn immer gereizt und beschäftigt. Fast ein Bekenntnis. Es liest sich wie die Zusammenfassung des Unternehmens, das Jürgen Habermas nun veröffentlicht hat. Ergebnis eines zwanzigjährigen Exerzitiums, das Klosterstuben und Gelehrtenzimmer verbindet: der Weg zurück, der Versuch, die Vorgeschichte des nachmetaphysischen Zeitalters zu erzählen." (....)
"Habermas erzählt keine Verlustgeschichte und nicht ihr Gegenteil. Er erzählt das, was er in dem Aphorismus von Theodor W. Adorno verdichtet findet: die Geschichte der Theologie als eine Geschichte ihrer philosophischen Anverwandlung, in der die semantischen Potenziale, all das, was im christlichen Glauben und der Theologie zur Sprache kommt, von der Schöpfung bis zur Erlösung, immer über das hinausweist, was Philosophie sich anverwandeln kann. Die Entstehung der autonomen Vernunft, die keinen Gott als Begründung mehr braucht, die nachmetaphysische Beschreibung der Welt ist nur möglich, weil sie die abgestreiften religiösen Vorstellungen und Glaubenssätze immer im Rücken hat, wie einen Schatten.
Philosophie, so wie Habermas sie rekonstruiert, kann deshalb Religion weder ersetzen noch verdrängen. Religion ist das, was in der Philosophie fehlt, und nicht das, was endlich überwunden ist." (....)
"Roter Faden ist immer die Auseinandersetzung von Glaube und Wissen, von autonomer Moral und göttlichem Gebot, vom Wandel der Transzendenz in eine transzendentale Begründung des Menschen. "Auch eine Geschichte der Theologie" – dieser Titel wäre genauso passend gewesen. Was die abendländische, christliche, aber durch jüdische und muslimische Vordenker geprägte Theologie für einen eigenen Beitrag zum postmetaphysischen Zeitalter leistete, wie theologische Aufklärung systematische Unterscheidungsübung wurde, daran erinnert Habermas, gerade weil es ihm um die Entwicklungslinien der Philosophie geht." (....)
"Es ist nicht das Alterswerk eines Frommgewordenen, der, müde am vergeblichen Aufklärungspathos geworden, in die Geschichte flieht, in der Theologie und Philosophie noch befreundete Disziplinen, ja, ein Denkstil waren, eine Praxis des Nachdenkens über die Welt und den Menschen, die ohne Zwist auskam. Habermas schreibt im Modus einer Rückbesinnung, die an Fragen der Gegenwart interessiert ist: Was kann Philosophie heute noch?" (....)
"Der eigentliche Antrieb für die beiden ausschweifenden Bände ist nicht die Sorge um akademische Disziplinen, sondern die Sorge um den Menschen, um sein Selbstverständnis und seine Stellung in der Welt. Neurobiologie und Medizintechnologie, digitale Vermessung und all die technologisch oder weltanschaulich motivierten Vervollkommnungsmodelle des Menschen, seit Jüngstem auch ein Revival kollektivistischer Weltanschauungen, führen in den Augen des großen Gelehrten zu Veränderungen im menschlichen Selbstverständnis, das sowohl die Religion als auch die Philosophie herausfordern muss. Beide geraten in die Defensive, beide drohen als Formen des Nachdenkens und des praktischen Einübens eines Menschseins, das individuelle Freiheit und Begrenzung gleichermaßen in den Blick nehmen will, irrelevant zu werden."
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