Wednesday, February 09, 2022

Habermas gratulates Alexander Kluge

Jürgen Habermas gratulates Alexander Kluge in "Die Zeit" (February 10, 2022):

"Die vielen Farben des Eigensinns. Meinem Freunde Alexander Kluge zum 90." (paywall)

Excerpts:

Es war aber nicht (......) das Juristische an dem Juristen, was mich für Gespräche mit dieser hageren und unruhigen, sehr nervösen, fast schmerzhaft gedankengetriebenen Person einnahm. Alexander ist auch alles andere als ein soziales Wesen; trotz großer Sensibilität für die behutsame Pflege einer intakten Beziehung über viele Jahrzehnte ist Gemütlichkeit bis heute ein Schrecken für ihn. Für das stets gegenwärtige Bewusstsein der Distanz von anderen spricht wohl auch das stereotyp wiederholte, halb fragende "ja?" am Ende seiner Sätze, mit dem er noch im Kreise von Freunden glaubt, sich der Zustimmung seiner Gesprächspartner versichern zu müssen. (.....)

Wenn heute ein gespanntes Publikum seinen immer noch hastig vorgetragenen Assoziationsketten etwas atemlos nacheilt, lenkt der flüchtige Gestus seiner Gedankenwirbel eher ab von jener liebevollen Fixierung auf einzelne exemplarische Erfahrungen, die doch typisch ist für ihn. Solche Erfahrungen sollen eher der lokalen Vernunft eines Justus Möser als der transzendentalen Vernunft Kants anvertraut werden. Trotz dieser konservativen Neigung ist Kluge freilich der Tradition der Aufklärung unbeirrt treu geblieben. Aber nicht die philosophische Form des Gedankens war es dann, in der Kluge sich am besten ausdrücken würde, sondern die literarische Form einer sprunghaft komponierten, spröde versachlichenden, jedoch zugleich von poetischen Momenten getragenen Erzählung – ebenso wie die filmische Form der raschen Montage von "gestellten", fast immer irritierenden Bildern, die Gefühle provozieren.

Allerdings war mein Bild des jungen Juristen zunächst so festgefügt, dass ich in diesem die Begabung eines ungewöhnlichen, alsbald auch in der Öffentlichkeit anerkannten Schriftstellers und Filmemachers verkannt habe. Es muss bereits 1958 gewesen sein, als er mich über viele Monate mittags am Institut für Sozialforschung abholte und zum Mittagessen (zum "lunch" ging man noch nicht) nach Hause begleitete, um auf dem Wege mit seiner leise und suggestiv eindringlichen Stimme ohne Unterbrechung auf mich einzureden. Er verblüffte und irritierte mich mit Einfällen, wie er es heute noch tut. Aus dem Redefluss hoben sich undeutlich die Konturen etwas unzusammenhängender und eigentümlich verfremdeter Episoden heraus; ich gestehe, dass ich beim ersten Hören in jener hastig vorgetragenen Laufreihe skurriler, aus dem Rahmen fallender Gestalten die zeittypischen "Lebensläufe" nicht erkannt habe. Erst 1962, als das Buch endlich erschien, ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen.

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