Wednesday, December 21, 2022

Manfred Frank on Dieter Henrich

Manfred Frank on Dieter Henrich (1927-2022) in "Die Zeit" (December 22, 2022): 

"Ein helles Licht ist erloschen". 

Excerpts:

"Henrich zeigte, dass alle Theorien, die das Subjekt für ein Prinzip der Philosophie hielten, von Descartes, dem "Vater der modernen Philosophie", bis in große Teile der europäischen Vorkriegsphilosophie hinein, einen kleinen, aber bedeutsamen Fehler aufwiesen: Subjekte sind durch Selbstbewusstsein ausgezeichnet, und das kann nicht als "Reflexion" verstanden werden, also nicht als Ergebnis eines bewusst-machenden Sich-auf-sich-selbst-Zurückbeugens des "Ichs". Der bewusstmachende Akt musste mit sich (der Reflexion zuvor) schon bekannt sein. Diese Bekanntschaft wird von der "Reflexionstheorie" nicht erklärt, sondern erschlichen.

Es bedurfte mithin einer Neujustierung des zugrundeliegenden Modells, denn die Existenz von Selbstbewusstsein stand ja nicht in Zweifel. Nicht in einer Selbst-vergegen - ständ lichung, sondern in einer "unmittelbaren", das heißt, durch kein zweites Glied vermittelten Kenntnis besteht es. Es war also auch nicht als eine hochstufig kognitive Leistung zu beschreiben, nicht als ein Wissen von sich, wie bei Descartes." (....)

Henrich hat weniger mit eigenen Theorien brilliert als durch sein Talent, die Texte der Klassiker so zu lesen, dass zuvor übersehene Einsichten aus ihnen hervorleuchteten. Sein Ehrgeiz war, die Grundeinsicht eines Autors zu erschließen und sie gegen die unzureichende Weise abzuheben, mit der dieser Autor sie begründet hat. So haben wir auch einen ziemlich neuen und ungleich komplexeren, aber auch spannenderen und verständlicheren Kant kennengelernt. Henrich nannte sein Verfahren die "argumentierende Rekonstruktion". (....)

"Unvergessen ist seine Auseinandersetzung mit Tugendhat und Habermas. Beiden, die auf vergleichbare Weise für einen Vorrang der gesellschaftlich-sprachlichen Einbettung von Subjekten vor ihrem angeblich solitären Selbstbewusstsein plädieren, hat er in bedeutenden Auseinandersetzungen kraftvoll widersprochen. Auch die Vorordnung der Intersubjektivität vor der Subjektivität führt in die Zirkel der Reflexionstheorie. Das hatten schon Fichte und Sartre bemerkt." (....)

"Eine wesentliche Kindheitserfahrung war, wie er in seiner philosophischen Autobiographie erzählt, ein schwerer chirurgischer Eingriff am Kopf, den er als Zweijähriger erleben musste. Die Dankbarkeit, die er den nachsorgenden Eltern gegenüber empfand, sei Auslöser seines Gedankens geworden, dass die Subjektivität nicht aus sich selbst sei, dass sie sich einem "unverfüglichen Grund" verdanke. Ein weiteres Argument gegen Heideggers, wie er sagte, "ingeniöse, aber grund-verkehrte" Ansicht, neuzeitliches Denken bestehe in einer "Selbstermächtigung der Subjektivität"."


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